Wenn ich ein rasender Reporter wäre, würde die Geschichte so beginnen:
„Silvester 1995: Einem Mann in mittleren Jahren ist es nicht vergönnt, den Ausklang des Jahres in fröhlicher Stimmung zu erleben. Er denkt an den neuen Werbespot für Tempotaschentücher, in denen allen leidgeprüften Nasen eine besondere Weichheit versprochen wird, damit sie im Falle eines Schnupfens nicht allzu wund gerieben werden, Ergebnis exzessiven Schneuzens. Laut niesend tut er seiner im Haus verstreuten Familie kund, dass ihn eine böse Erkältung erwischt hat. Aber die weiß das längst. Er niest nicht zum ersten Mal. Deshalb fühlt sich niemand verpflichtet, ihm ein „Helf Gott!“ oder „Gesundheit“ durch das Treppenhaus zuzurufen. So schnell gewöhnt sich der Mensch an das Leid anderer…“
Aber ich bin kein Reporter. Deshalb muss ich auch nicht mit den Emotionen meiner Leser jonglieren, um sie bei der Stange zu halten. Außerdem ist das ja noch nicht die ganze Wahrheit. Die besagt nämlich, dass nicht nur ich, sondern auch meine liebe Gemahlin den Verbrauch von Papiertaschentüchern im vergehenden Jahr zusammen mit mir sprunghaft nach oben getrieben hat. Es war direkt rührend anzusehen, wie sie eine Riesenpackung von 18×10 Taschentüchern aus unserem Vorratslager zum allgemeinen und freien Gebrauch auf den Wohnzimmertisch hievte.
Man kennt solche Szenen: Wie den Vorverkaufsstellen die Karten für das „Konzertereignis des Jahres“, das gewöhnlich aus unterschiedlichem Anlass mehrmals im Jahr verheißen wird, förmlich entrissen werden, und es nach zwei Stunden lapidar heißt: „Ausverkauft! Restkarten an der Abendkasse“.
Die Packung Taschentücher ist bereits nach 30 Minuten zu mehr als einem Drittel aufgebraucht, und wir denken darüber nach, den Abtransport der vollgeschneuzten und zerknüllten Taschentücher systematisch zu organisieren. Doch es ist nicht nur Silvester, sondern auch Sonntag und an Sonderschichten der Müllabfuhr nicht zu denken.
Apropos denken: Wenn ich an dieser Stelle daran denke, dass ich an besagtem Silvester 1995, durch und durch verschnupft, eine Örtlichkeit aufsuchen musste, die gerne mit zwei Ziffern bezeichnet wird und die, um die Zahl 7 ergänzt, die Personalnummer von der Welt berühmtestem Geheimagenten ergeben, der im Übrigen – ein Privileg aller Nullnull-Agenten – von Seiner Majestät der Königin die Lizenz zum Töten erhalten hat – wenn ich also daran denke, dass ich diesen Ort aufgesucht habe, während draußen viel zu früh bereits die ersten Böllerschüsse zu vernehmen waren, was die Fürsorglichkeit meiner Gemahlin provozierte, indem sie mir über den Gang hinweg und durch zwei Türen zurief: „Hast du Probleme?“ – wenn ich also daran denke, dann wird mir klar, dass ein Reporter schon ganz besonders rasend sein müsste, wenn er eine Geschichte mit dem Thema „Wie ich einmal verschnupft war und die Böllerschüsse wie üblich wieder zu früh losgingen“ schreiben und veröffentlichen wollte. Zum Glück bin ich kein Reporter, wenn auch manchmal rasend. Aber dazu an anderer Stelle mehr.