Die Wirklichkeit im Kochtopf

Nicht wenige glauben, die Wirklichkeit mithilfe der Sprache in den Griff bekommen, sie quasi beherrschen zu können. Ich habe da allerdings so meine Zweifel.

Es fängt schon damit an, dass die Grenzen dessen, was Wörter aussagen, nicht starr sind. Nehmen wir etwas Alltägliches: Kochrezepte. Sie enthalten mehr oder weniger genaue Angaben über die Zubereitung von Speisen. Wenn aber eine Prise von diesem, ein halber Teelöffel von jenem genommen werden soll, ist spontanes Gespür gefragt. Dann ist das gute alte Fingerspitzengefühl dem Messbecher als Dosierungshilfe überlegen.

Ebenso sollte, wer das anschließende Geschmackserlebnis beschreiben will, über ein geradezu übersprachliches Geschick verfügen. Nicht nur, dass jeder Mensch anders empfindet, es fehlen meistens auch die Wörter, um ganz genau zu sagen, was man geschmeckt hat, sofern es nicht eindeutig salzig, bitter, sauer oder süß ist, um die klassischen Geschmacksrichtungen zu nennen. Der Boskop etwa mag sauer, der Golden Delicious süß sein, aber nicht wenige Apfelsorten sind allenfalls säuerlich oder süßlich, also nur annäherungsweise sauer bzw. süß. Dass es mit „umami“ inzwischen eine weitere Bezeichnung für ein bestimmtes Geschmacksempfinden gibt, ist nur ein weiterer Beleg für meine These, dass die Wirklichkeit auf die Sprache pfeift. Also müssen wir diese jener, so gut es eben geht, anpassen.

Wenn uns also einmal ein Rezept in die Binsen geht, weil wir zu nachlässig umgerührt haben oder statt einer Prise ein ganzer Fingerhut Salz im Kochtopf gelandet ist, mögen wir vielleicht in uns hinein fluchen. Besser wäre es, über alle Rezeptgrenzen hinweg aus dem Fundus an Erfahrungen zu schöpfen, um der Wirklichkeit mit etwas Sahne oder einem anderen kulinarischen Universalhilfsmittel ein Schnippchen zu schlagen und am Ende vielleicht doch noch etwas halbwegs Essbares zustande, auf den Tisch und in die hungrigen Mägen unserer Lieben zu bringen.

Autor: Emsemsem.net

Ob gereimt oder nicht: Ich mach's und mag's kurz auf Emsemsem.net, wo es vorwiegend Aphorismen, königlich-bayrische Reimungen über den niederbayrischen Kini und Gedichte gibt. Wie gesagt: vorwiegend.

7 Kommentare zu „Die Wirklichkeit im Kochtopf“

  1. Sehr geschickt! Darauf wäre ich nicht gekommen; aber ein ganzer Fingerhut Salz … da schüttelt es mich allein schon bei der Vorstellung! Okay, kommt drauf an, wie groß der Braten ist, aber wenn die Alternative eine Prise wäre …
    Danke dir für die Etüde, macht Spaß zu lesen!
    Morgenkaffeegrüße mit Regen 😉

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