Gefangen
Obwohl ich in einen Western geraten war, war das Klo ein blitzend sauberes WC mit der heute üblichen Ausstattung. Ich erledigte, was jeder Mensch immer wieder erledigen muss, und als ich mir die Hose zumachen wollte, merkte ich, dass ich nackt war, pudelnackt.
„Du meine Güte!“ entfuhr es mir im ersten Schreck. Wie sollte ich je wieder aus diesem verhexten Haus kommen? Vorsichtig spähte ich durch einen Spalt der Tür hinaus auf den Gang und war nicht schlecht erstaunt, als ich Dutzende von Menschen sah, Männer und Frauen. Alle waren nackt wie ich und in einschlägige Beschäftigungen vertieft und entsetzlich stöhnend. Wie aus einem Reflex handelnd schloss ich die Tür.
„Alles, nur das nicht!“ dachte ich. Ich hatte Angst. Lilu war mit seiner Fernsehfernbedienung am Werk, und das, was ich gerade gesehen habe, durfte nicht einmal nach 23.00 Uhr gesendet werden, auch nicht von einem Pay-TV-Sender. Ich dachte nach. Wie konnte ich mich aus meiner Situation befreien? Ich war Gefangener von Lilus Fernsehfernbedienung.
Was soll’s, dachte ich. Ich habe keine andere Möglichkeit. Ich riss die Tür auf und lief entschlossen auf den Gang. Im selben Augenblick wuchtete mich ein verrückt gewordener Ritter mit seiner Lanze aus dem Sattel. Ich schrie wie am Spieß, während ich zu Boden fiel. Und fiel. Und fiel. Wieso fiel ich so lange von meinem Pferd? Ich öffnete die Augen. Ich stürzte mit dem Kopf vornüber auf ein Wasser zu, das in Windeseile auf mich zuraste. Ich tauchte mit dem Kopf ein und federte rückwärts wieder heraus, und pendelte in der Luft auf und ab. Schließlich schwebte ich hinüber zum Ufer und wurde sachte und langsam auf den Boden gelassen. Irgendwo las ich das Schild: Jochen Schweitzer Bungee-Springen.
Ich sah in ein Kameraobjektiv.
„Guten Tag! Wir sind vom Bayerischen Rundfunk. Dürfen wir Ihnen vor Ihrem Auftritt ein paar Fragen stellen?“
„Wenn es nicht lange dauert. Ich muss in fünf Minuten auf der Bühne sein.“
„Werden die Beatles jemals wieder gemeinsam auftreten?“
„Die Beatles? Sie meinen diese Unterhaltungscombo aus den Sechzigern? Da müssen Sie die schon selber fragen. Aber jetzt müssen Sie mich entschuldigen, die Fans warten.“
„Wir danken Ihnen, Mister McCartney.“
Ich summte fröhlich „Yesterday all my troubles seemed so far away“, als ich die Bühne betrat. Es war schwarz wie die Nacht.
Da tauchte plötzlich ein Mann vor mir auf. Er trug einen schwarzen Anzug und einen Bowler auf dem Kopf.
„Ach!“ rief ich, und mein Ruf erstarb in der Londoner Nacht. Ich erkannte sofort, wer mir da den Weg versperrte. Es war der Mann, von dem man in den letzten Tagen soviel in den Zeitungen lesen konnte. Er warf ein spitzes Messer von einer Hand in die andere: Jack the Ripper!
„Du kommst jetzt mit. Wir werden ein paar schöne Stunden haben, meine Süße!“
„Oh nein! Bitte!“
Nun war ich also eine „Süße!“ Lilu, schalt um! Sofort! Schnell! Hier geht’s um Leben und Tod, wenn es auch nur das Fernsehen ist. Drück auf einen Knopf! Auf irgendeinen!
Und tatsächlich! Lilu hat sich meiner erbarmt. Ich löste mich, gerade als Jack the Ripper mich in eine dunkle Seitengasse bugsierte und sein Messer bedrohlich auf mich richtete, in meine Einzelteile auf. Ich atomisierte, was ich als ein angenehmes Gefühl des Unbeschwertseins empfand. Ich schwirrte, in Millionen von Einzelteilen zerlegt, durch die Luft, und jedes dieser Atome barg meine Seele.
Ich hörte plötzlich eine aufgeregte Stimme:
„Energiezufuhr erhöhen! Bald haben wir ihn! Oder es ist aus! Ja! Da ist er. Endlich! Spock, endlich sind Sie wieder da!“
Ein halbes Dutzend Augenpaare war auf mich gerichtet. Man klatschte Beifall. Ich befand mich an einem Ort, der offenbar nur aus technischen Geräten zu bestehen schien. Ich stand in einer Nische auf einer runden Metallplatte. Mir war schwindelig. Kein Wunder nach all dem Wirbel, den meine Atome mitgemacht hatten. Jetzt war ich wieder ganz. Aber zu was wurde ich zusammengesetzt?
„Was ist mit Ihnen, Spock? Komm, Pille, wir müssen ihn stützen, sonst kippt er uns noch aus seinen intergalaktischen Latschen.“
„Wir bringen ihn in die Krankenstation“, sagte dieser Pille.
„Wasser!“ röchelte ich, als hätte ich einen Marsch durch die Wüste Gobi hinter mir.
„Wasser? Haben Sie das gehört, Captain?“
„Ja. Aber Spock, seit wann trinken Sie als Vulkanier Wasser?“
„Es muss etwas Furchtbares geschehen sein, Captain“, vermutete Pille richtig.
Auf der Krankenstation hielt mir Pille ein kleines Fläschchen unter die Nase, das einen unerträglichen Geruch ausströmte, der sogar Steine zum Schreien gebracht hätte.
„Spock, nun reden Sie mal“, sagte der Captain. „Was ist passiert? Wir wollten schon einen Suchtrupp losschicken, weil sie nicht zurückgekommen sind.“
Zurückgekommen? Ich dachte nur an eines: Wie konnte ich wieder in mein richtiges Leben zurückkommen?
„Ich weiß…“
„Ja! Spock! Reden Sie!“ drang der Captain ungeduldig in mich.
„…ich weiß nichts.“
„Ich fürchte, man hat sein Gedächtnis gelöscht“, fachsimpelte Pille. „Er wird uns nichts sagen können über seinen Ausflug auf den Planeten Gamalana.“
Der Captain dachte nach.
„Pille“, sagte er, „du musst ihm etwas geben, das gegen Reduktionen der Gedächtnisfähigkeit jeder Art immun macht. Dann beamen wir ihn nochmal auf Gamalana.“
„Aber Jim! Das ist gefährlich, du weißt das!“
„Aber wir haben keine andere Wahl. Oder willst du ewig in diesem intergalaktischen Magnetfeld gefangen bleiben? Ewig? Du weißt, was das bedeuten würde, Pille.“
Pille wusste das offenbar.
„Gut, Jim“, sagte Pille und versetzte mir eine Spritze in den rechten Oberarm, die jedoch keine Nadel hatte. „Gar nicht übel“, dachte ich.
Ich versuchte noch zu sagen, dass man eigentlich gefragt werden möchte, als ich schon weg war. Buchstäblich weg.
Alles Show
Ich kann euch nicht alles, was ich erlebt habe, erzählen. Aber denkt nur an Filme oder Fernsehserien wie „Die bezaubernde Jeannie“, „Bugs Bunny“ – das war besonders schrecklich -, „Die Sendung mit der Maus“, „Siebenstein“ oder an diese unsäglichen Schlägerfilme mit Bud Spencer und Terence Hill, und ihr könnt euch ohne weiteres ein Bild davon machen, was mir – Lilu sei Dank! – widerfahren ist. Wenn ich überhaupt heil und gesund, so als wäre gar nichts geschehen, aus dieser Geschichte herausgekommen bin, dann deshalb, weil im Prinzip alles nur Show war.
Lilu musste, so kam es mir jedenfalls vor, einige Stunden auf seiner Fernsehfernbedienung hin und her gezappt haben. Als ich gerade noch die Hammerfaust Don Camillos auf mein Gesicht zurasen sah, befand ich mich plötzlich im Kultusministerium, gerade als mir der KuMi die Hand zum Abschied entgegenstreckte. Dieses Mal war er kein Cowboy. Ich konnte aufatmend registrieren: Meine Irrfahrt durch das Fernsehen hatte ein Ende.
„Also“, sagte der Minister, „ich danke Ihnen noch einmal für Ihren Besuch. Sie können sicher sein, dass ich alles tun werde, um die Angelegenheit in Ihrem Sinn voranzutreiben.“
„Vielen Dank!“ sagte ich.
„Am einfachsten wäre es allerdings“, sagte der Minister, „wenn die Lehrer anstelle ihrer Köpfe Bildschirme tragen würden.“
„Dann müßten es allerdings Geräte ohne Fernbedienung sein, weil die Kinder sonst ständig das Fach wechseln würden.“
Lachend verabschiedeten wir uns.
Offenbar ist alles glatt gegangen mit dem KuMi. Der Minister war sogar höchstpersönlich bei der Besprechung anwesend, was keineswegs selbstverständlich war. Dass ich über diese Unterredung keine Einzelheiten mitteilen kann, werdet ihr verstehen. Meine dienstliche Schweigepflicht bindet mich. Außerdem ist mir sowieso, als wäre ich gar nicht dabei gewesen. Ich stelle mir das Ganze vor wie bei einem Computer, in den man etliche Dateien übereinandergeschichtet laden kann. Jede neu geladene Datei verdeckt die alte, ohne dass diese jedoch gelöscht wäre. Man sieht sie am Bildschirm nur nicht. So ist mein wirkliches Leben, das bis zu meinem Eintritt in Rudis Café gewissermaßen aktiviert war, durch einen Knopfdruck Lilus überlagert worden von der Wild-West-Szene. Darüber schob sich dann die nächste unwirkliche Wirklichkeit usw.. Unterdessen ging die wirkliche Wirklichkeit, die sich ja durch nichts aufhalten lässt – auch nicht durch Lilus Fersehfernbedienung – weiter ihren Gang. So war ich im KuMi, ohne davon zu wissen. Ich hege zwar den Verdacht, dass vielleicht in Lilus Computer alles gespeichert ist. Aber Lilu tut unschuldig wie ein Lämmchen.
Das alles soll, so fragt ihr jetzt womöglich, mit diesem Nasobem-Gedichtsel angefangen haben? Dazu kann ich nichts anderes sagen als: Auch wenn es euch unwahrscheinlich vorkommt, so ist es wirklich gewesen. Aber fragt mich bloß nicht, was dieses „wirklich“ bedeuten soll. Das kann ich euch nach dieser Geschichte beim besten Willen nicht erklären.
Die nächste (und letzte) Lilu-Geschichte folgt nächsten Mittwoch. Titel: Die Schattenfresser
Ein Gedanke zu „Lilu – Die Fernsehfernbedienung/Teil 4“