Zustand

Wer in der „Impulswerkstatt“ mitschraubt und -hämmert braucht nur vier vorgelegte Fotos auf sich wirken und sie gewissermaßen in sich zur Frage reifen zu lassen, um in literarischer oder visueller Form die passende Antwort dazu zu liefern. Diese „Antwort“ darf man auch mehr als nur einer „Frage“ zuordnen, was ich bei dem nachfolgenden Text mache, indem ich ihn Foto 1 und 3 widme.

Der Blick auf mein Leben ist ein Blick, den man über Bücher schweifen lässt, die in einer Bibliothek stehen, geordnet und doch nur auffindbar, wenn man sich eines fein ausgetüftelten Systems bedient. Es ist der Blick, der Buchrücken streift und hie und da stehen bleibt. Es ist ein unsteter Blick, ein Blick, der unablässig sucht und doch nicht weiß, was er sucht, ein Blick, der an kein Ende kommt.

Hier ist mein Leben zwischen Geburt und Tod nur noch Erinnerung für mich, und ich muss damit rechnen, dass diese Erinnerung irgendwann das Schicksal aller Erinnerungen teilt und verblasst.

So bin ich mir meiner Situation nicht sicher. Eine detaillierte Beschreibung davon erübrigt sich aus diesem und aus einem anderen Grund: Ich habe nicht die Zeit dazu. Das zu lesen, mag Sie überraschen, da ich doch alle Zeit der Welt haben müsste. Sie irren sich. Schon mit dem Bezug zur Welt liegen Sie in meinem Fall völlig daneben, und Zeit habe ich hier auch keine mehr. Ich befinde mich nur.

Ich bin wie alle anderen hier nur ein Wesen, das seiner Existenz nachgeht. Das ist etwas anderes als Leben, etwas anderes als Sein. Wir sind hier nur Menschwesen und hier sind wir da. Mehr nicht. Hier befinden wir uns, ohne uns unseres „Ichseins“ sicher zu sein.

Man beschäftigt sich hier irgendwie, ohne dies zu müssen, weil es gar keinen Sinn ergibt. Es würde genügen zu existieren. Auch ich beschäftige mich, indem ich schreibe, was nie jemand lesen wird. Aber was heißt schon „schreiben“? Es ist, als würde ich mir das Schreiben nur einbilden, als würde ich nur denken, ich schriebe, und wenn ich das denke, dann passiert es irgendwie. Dabei passiert hier irgendwie nichts. Alles ist getan. Alles ist Zustand. Bloßer Zustand.

Wir könnten einem Bauwerk nicht einmal mehr den kleinsten Stein hinzufügen, selbst wenn es der letzte wäre, der noch zu dessen Vollendung fehlte. Unser Tun bewirkt nichts mehr. Alles hier ist wirklich, ohne durch etwas bewirkt zu sein oder zu werden. Ja, es gibt ein Nichts hier, ein Nichts, das irgendwie passiert und das uns Menschwesen widerfährt.

Ob ich wünschen soll, dies alles hier wäre nur ein Traum? Oder wenigstens doch nur eine Episode innerhalb meines Lebens, irgendwas zwischen Geburt und Tod?

Sehnsucht verspüre ich immerhin. Es ist, als wäre sie und nur sie das, was ich bin. Hier bin. Aber was ist eine Sehnsucht ohne Hoffnung auf Erfüllung? Bedeutungslos. Nichts. Reines Leid.

Ich vermisse mein Leben. Ich vermisse mich.

Autor: Emsemsem.net

Ob gereimt oder nicht: Ich mach's und mag's kurz auf Emsemsem.net, wo es vorwiegend Aphorismen, königlich-bayrische Reimungen über den niederbayrischen Kini und Gedichte gibt. Wie gesagt: vorwiegend.

8 Kommentare zu „Zustand“

  1. Faszinierender Text, das Leben zwischen Geburt und Tod des Sprechenden ist nur noch eigene Erinnerung und „unser Tun bewirkt nichts mehr“. Also ein Bericht aus der Geisterwelt, in der das Bewusstsein des Berichtenden voll erhalten ist. „ich vermisse mich“ finde ich als Aussage auch sehr spannend. Also, mein lieber Emsemsem, ein Text, der mir nicht nur gut gefällt, sondern der auch nachwirkt. Ich bedanke mich für das Produkt des Mithämmerns und Mitschraubens !!

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    1. Danke für deinen Kommentar, über den ich mich sehr freue, weil ich sehe, dass die Intention des Textes erkennbar ist. Auch wenn ich mir als Autor nicht die abschließende Deutungshoheit über meine Texte anmaße, so geht es darum in Sprache zu fassen, was pure Hoffnungslosigkeit ist. Insofern ist dieser Text eine Warnung.

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