Zuckerwatte
Nach diesem Tag war ich müde. Mein Kopf fühlte sich an wie gesalzene Zuckerwatte. Über meinen Augen breitete sich ein Schleier aus, durch den alle Dinge nur unscharf und schwammig zu erkennen waren. Während des Abendessens hatte ich keine Lust, mit meiner Frau und den Kindern eingehende Gespräche zu führen. Ich war auch nicht fähig dazu: Den ganzen Tag über hatte ich wie wütend gearbeitet, als müsste ich den Krimi spätestens bis morgen früh fertig haben. Dabei wusste ich, dass ich wieder nur für die Schublade schrieb, weil sich kein Verleger dafür finden würde. Ich habe allerdings schon längst die Suche nach einem solchen aufgegeben.
Ich ging sehr zeitig zu Bett, vielleicht eine halbe Stunde nachdem nichts mehr von den Kindern zu hören war. Toni blieb alleine im Wohnzimmer zurück, wo sie noch Rezepte sortierte und nebenbei fernsah. Wenige Minuten genügten mir, und ich schlief wie ein Bär. Ich fühlte mich wohl; bis in den Schlaf hinein merkte ich, dass ich mich wohl fühlte. Eine gute Nachtruhe mit genügend Erholung für Körper, Geist und Seele war mir sicher. Ich schlief so fest, dass ich auch nicht merkte, wie Toni zu Bett ging.
Zwei- bis dreimal im Monat brauche ich eine Nacht wie die, von der ich erzähle. Es macht mir nichts aus, mehrere Nächte hintereinander – wenn die Arbeit dies erfordert oder wenn eines der Kinder krank ist und deshalb unruhig schläft – vergleichsweise wenig zu schlafen. Aber dann zwingen mich schwere Augenlider mit unwiderstehlicher Macht dazu, früh ins Bett zu gehen, auf dass mich ein herrlich erquickender Schlaf für mindestens zehn Stunden in seine wohligen Arme schließe.
Ich weiß bis heute nicht, was zum Kuckuck mich weckte. Es könnte natürlich dieses Wimmern gewesen sein, das in der Luft lag. Bewusst vernahm ich es jedoch erst, als ich schon auf den Beinen war, um aufs Klo zu gehen. Toni atmete in tiefen Zügen und schlief selig. So entging ihr, dass ich aufgestanden war.
Plötzlich war ich von diesem wimmernden, weinenden, fast ein weinig singenden Ton völlig in Anspruch genommen. Ich gestehe, dass ich Bammel hatte. Von Angst zu sprechen, wäre übertrieben, aber auch nicht ganz falsch. Ich ging in die Diele und lauerte und spähte. Ihr werdet mich für verrückt halten, wenn ich Euch sage, dass ich für einen kurzen Augenblick an ein Gespenst dachte. Eigentlich an einen Toten, der aus irgendeinem Grunde nicht die ihm zustehende Ruhe finden konnte und sich nun von mir – ausgerechnet von mir! – Erlösung erhoffte. Das Wimmern schien aus dem Dachgeschoss zu kommen.
Da war mir mit einem Male alles klar: Lilu! Ich hatte Lilu völlig vergessen und ihn im Arbeitszimmer eingeschlossen. Wie hätte Lilu vom Stamme der Lulis, klein wie er war, eine Tür öffnen können, an der sogar wir normalgroße Menschen erst mühsam und langwierig emporwachsen müssen?
In langen Sätzen sprang ich die Treppe hinauf. Das Arbeitszimmer war bis auf das bisschen Mond- und Sternenlicht, das durch das Fenster drang, dunkel. Früher hätte man überaus poetisch gesagt: Das Arbeitszimmer war in ein fahles Licht getaucht. Und irgendwo da in diesem Dunkel schluchzte und heulte Lilu – der große, tapfere und liebe Lilu. Ich knipste sofort das Licht an und sah meinen neuen Freund auf dem Schreibtisch neben der Schreibmaschine. Er saß mit dem Rücken an einen Radiergummi gelehnt und weinte. Sein ganzer Körper zitterte – von den Schuhen bis zur Pudelmütze.
Wenn ich geglaubt hatte, ich könnte nun einfach zu Lilu gehen, ihn auf die Hand nehmen, um ihn zu trösten, hatte ich mich getäuscht. Als er mich sah, stellte er sich vielmehr breitbeinig hin und schnauzte mich, die Fäuste gegen die Hüften gestemmt, an:
„Was fällt dir eigentlich ein, hm?“
Ich war unfähig zu antworten und stammelte nur:
„…A…Ach…Luli…Lilu!“
„Du glaubst wohl, es macht Spaß hier, glaubst du wohl? Hä? Und dann wird’s auch noch dunkel in deinem blöden Schreibmaschinenzimmer, in deinem blöden!“
Ich wagte nicht, ihm auch nur andeutungsweise zu sagen, dass ich ihn vergessen hätte. Lilu hätte mich – mit Recht – sein Lebtag lang keines Wortes mehr gewürdigt. Oh, ich schäme mich noch heute dafür!
„Solche Späße macht man nicht, solche Späße!“ belehrte er mich.
Ich ließ ihn in dem Glauben, ich hätte mir einen Scherz auf seine Kosten erlaubt, und sagte nur:
„Du hast völlig recht. Entschuldige!“
„Das kann durchaus sein, dass ich entschuldige, kann durchaus sein. Aber erst bietest du mir einen Tee an, und zwar einen Kamillentee bietest du mir an!“
Wir gingen in die Küche hinunter. Ich musste ihn tragen, weil die Stufen für ihn zu hoch waren. Als ich das Wasser auf den Herd setzte, kam meine Toni. Sie blickte noch ganz zerknittert drein und fragte:
„Was ist hier los?“
„Ist das deine Frau?“ fragte Lilu dazwischen.
„Ja, das ist Toni vom Stamme der Fuchs“, antwortete ich.
„Was redest du?“ fragte Toni.
„Ach nichts, ich rede mit Lilu.“
„Wer ist das?“
„Darf ich vorstellen…“
„Einen Moment, ich sehe hier niemanden. Nur dich und mich. Träumst du?“
„Aber nein. Ich mache Lilu einen Kamillentee. Er war allein im Arbeitszimmer und hat einen Schrecken bekommen.“
„Den bekomme ich da oben auch manchmal. Aber trotzdem versteh’ ich kein Wort.“
„Du Bernhard“, rief mir Lilu zu, „deine Frau sieht mich nicht, kann mich nicht sehen.“
„Dann mach’ dich sichtbar!“
„Das geht nicht, geht nicht.“
„Warum geht das nicht?“
„Weil ich nicht will.“
„Er kann sich nicht sichtbar machen für dich, weil er nicht will“, klärte ich Toni auf, als wären alle diese Dinge große Selbstverständlichkeiten für mich. „Das musst du schon akzeptieren.“ Ich redete so, als ob ich selbst alles längst verstanden hätte, was heute passiert war. Das traf aber keineswegs zu. Ich hatte mir einfach noch gar keine Gedanken über das Erscheinen von Lilu gemacht. Toni kennt mich und weiß, dass ich gerne absurde Gespräche führe. Sie tat, was sie in solchen Fällen gerne zu tun pflegt. Sie gab mir einen Kuss und sagte: „Ich liebe dich. Ganz fest.“
Das Wasser kochte. Ich goss das aus allen Poren dampfende Wasser in eine Tasse und ließ einen Teebeutel darin schwimmen. Ich wusste gar nicht, wie ich Lilu den Tee überhaupt servieren sollte. Er schien meine Gedanken zu erraten, da er spitzbübisch fragte:
„Du hast kein Geschirr für mich, gell? Meiner Größe bist du eben nicht gewachsen.“ Er wirkte souverän, über den Dingen stehend.
„Doofes Wortspiel!“ murmelte ich. „Weißt du denn, was ich machen soll?“
„Geh mit mir nochmal in dein Schreibmaschinenzimmer!“
„Und wozu das?“
„Wart’s ab!“
Ich sagte zu Toni, die mich ein wenig entgeistert ansah, sie möge doch in acht Minuten den Teebeutel aus dem Wasser nehmen, falls ich bis dahin nicht wieder zurück sein sollte. Ich wusste schließlich nicht, was Lilu mit mir vorhatte. Toni aber sagte nur: „Du schreibst zu viele Krimis.“
Im Arbeitszimmer legte ich meine Hand auf den Boden, und Lilu rutschte über den kleinen Finger herunter. Ich sah ihm an, dass er vor Stolz schier platzte. Er ließ seine Brust prall anschwellen und richtete sich zu voller Größe auf – was immer das bei einem Winzling von Lilus Größe heißen mag. Bei jedem Schritt schlenkerten seine Füße, als könnten sie genausogut in der Luft gehen. Am Ende des Bücherregals, in der hinteren Ecke links von der Tür, blieb er stehen. Mit einer einladenden Geste deutete er auf das Regalfach, das den Boden berührte, und wobei sein Gesicht vor Freude zu bersten schien, sagte er: „Mein Heim!“
Ich sah nichts, nur ein leeres Regalfach.
Dann sah ich doch etwas. Ich schnellte nach vorne.
„Was ist das?“
„Hier wohne ich“, sagte Lilu und spielte den Ruhigen. Er kam mir vor wie ein Gangster, der sich noch im Angesicht der Urteilsverkündung, und beinhaltete diese die Todesstrafe, seelenruhig die Nägel reinigt und dabei eine beschwingte Melodie pfeift.
Ein wunderschönes kleines Haus, das für Lilus Verhältnisse freilich eher eine Villa war, stand plötzlich im Regal, umgeben von einem herrlichen Garten mit Blumen, Bäumen und Sträuchern. Ich wollte meinen Augen nicht trauen. Zugleich fühlte ich eine angenehm milde Erregung in mir, wie man sie auch empfindet, wenn man junge Kätzchen, Hündchen, Äffchen oder auch Menschenbabys sieht oder gar auf dem Arm hält.
„Wohnst du da allein?“ fragte ich.
„Ja!“
„Und du putzt und versorgst alles alleine?“
„Sag’ mal, hast du schon einmal gehört, dass einem Lilu etwas Probleme bereitet hätte?“
„Und vorhin, als es dunkel war im Arbeitszimmer?“
„Ach was! Du solltest nur ein schlechtes Gewissen bekommen, weil du mich vergessen hast. Das war doch kein Problem. Pah!“
Er ging in sein Haus. Als er zurückkam, trug er ein Tablett mit einer Tasse, einem Löffel und einem Stückchen Zucker darauf. Das Zuckerstückchen war bestimmt nicht halb so groß wie eine Süßstofftablette.
„Jetzt musst du mich vorsichtig nach unten tragen, damit die Tasse nicht bricht.“
Und während ich ihn nach unten trug, sagte er: „Ich würde dir gerne zeigen, wie ich wohne, aber das geht nicht. Ich hoffe, du verstehst das. Du bist zu viel gewachsen. Das hättest du nicht machen dürfen. Ich hab‘ es ja auch nicht gemacht.“
„Du wohnst sehr schön, das sehe ich auch so“, sagte ich, und zum ersten Mal freute ich mich über meinen neuen Freund, den ich nie mehr im Arbeits-, Schreibmaschinen- oder einem anderen Zimmer vergessen wollte.
Teil 3 folgt nächsten Mittwoch.
Oh, du bist ja eine Schreiberin von längeren Geschichten, noch dazu von originellen. Solltest du einmal Zeit und Lust haben, würde ich mich freuen, wenn du in meiner Impulswerkstatt vorbeikommen würdest ! mit herzlichen Grüßen
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Ich muss Dich leider enttäuschen: Ich bin ein Schreiber und Koautor von Monikas Blog. Dennoch freue ich mich sehr über Deine Rückmeldung. Danke!
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Aha, ihr seid ein Team. Jedenfalls gefällt mir die Geschichte, wer auch immer sie geschrieben hat 🙂
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Ja wir sind ein Team 🙂 es freut mich, dass Dir die Geschichte meines Co-Autors gefällt.
Deine Impulswerkstatt habe ich übrigens heute früh entdeckt.
Das klingt sehr interessant. Für den Juni wird es zu knapp, aber wenn der Juli kommt, werde ich mich gerne davon inspirieren lassen. Liebe Grüße Monika
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Ebenfalls herzlich willkommem 🌹
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Freut mich wirklich sehr.
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