Dem Glück am nächsten

„Abendbrot“ gehört zu den Wörtern unserer Sprache, die einen besonders schönen Klang haben, einen zärtlichen Klang nach Familie und Geborgenheit. Anders etwa als das „Mittagessen“, auch als das „Frühstück“, sogar mehr als die „Vesper“, die wohl nur noch gelegentlich in der süddeutschen Umgangssprache anzutreffen ist.

Der Mensch, mag er noch so sehr die Welt bereisen, braucht Heimat. Die heimatlose Existenz kommt einer labyrinthischen Irrfahrt durchs planetare Irgendwo gleich. Das sage ich als einer, der in seiner Kindheit und Jugendzeit das Gefühl des Daheimseins lange entbehren musste, obwohl ich mit meinem Leben alles in allem durchaus zufrieden bin. Aber seither weiß ich, was es heißt, wenn die Seele in einem Körper leidet, der zwar ein Kissen hat, auf das er sein Haupt legen kann, sie selber aber nicht zur Ruhe kommt, weil sie sich einsam, verlassen und fremd fühlt, denn die Menschen um sie sind nicht die „Lieben“. Deshalb fürchte ich, dass in manchen Kindern, insbesondere in den kleinsten, die heute, oft leider aus wirtschaftlicher Notwendigkeit, in Krippen, also fern von den Eltern betreut werden müssen, seelische Blessuren entstehen, die Nachwirkungen haben werden, vielleicht erst viele Jahre später. Die „Wochenkrippen”, die es in der DDR gab, sind ein besonders extremes Beispiel dafür.

Gut, dass es die Sprache gibt. Sie kann in jeder Situation eine Heimat sein. Denn sie verbindet Menschen. Das zeichnet sie als Kulturtechnik in ganz besonderer Weise aus. Wenn dann auf dem Abendbrottisch auch noch eine Speise dampft, die duftet und schmeckt, als hätten Oma und Mama oder jemand anderer, mit dem man existenziell in einzigartiger Weise verbunden ist, sie zubereitet, dann gehört man zu den Menschen, die dem Glück am nächsten sind. Vielleicht ist es das, was sich in dem seltsamen Wort „Heimwehland“ von Hermann Hesse verbirgt.

Autor: Emsemsem.net

Ob gereimt oder nicht: Ich mach's und mag's kurz auf Emsemsem.net, wo es vorwiegend Aphorismen, königlich-bayrische Reimungen über den niederbayrischen Kini und Gedichte gibt. Wie gesagt: vorwiegend.

9 Kommentare zu „Dem Glück am nächsten“

  1. „Heimwehland“? Hesse? Prosa oder Lyrik?
    Als Kind war mir das nicht klar, was ein gemeinsames Abendbrot alles bedeuten kann, da habe ich es eher als Mittel zur „Freiheitsberaubung“ empfunden, denn ich wollte ja spielen oder lesen ;-). Für meine Kindheitsfreundin war es dagegen eine beständige Konfrontation mit dem herrschsüchtigen, egoistischen Vater – nicht für alle ist Abendbrot Geborgenheit, für manche ist es schlichtweg Angst. Aber dagegen gibt es die, die IMMER allein essen (müssen), und da frage ich mich dann auch, wo der Zusammenhalt in den Familien herkommen soll, denn eine Mahlzeit zu teilen, ist doch sehr archaisch.
    Mag deine Etüde.
    Morgenkaffeegrüße! ☁️💻☕🍪

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    1. Herzlichen Dank für Deine Rückmeldung! Ich habe anderswo mal geschrieben: In einer Familie hat und ist jeder eine Aufgabe. Insofern ist nichts zu beschönigen in Sachen Abendbrot. Ich habe selber aus meinen Erfahrungen den Schluss gezogen, wenigstens die Fehler, die ich erkannt habe, nach Möglichkeit nicht zu begehen. – Ich habe das Wort von Hesse aus seinem Gedicht „An die Schönheit”.

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  2. „Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt!“ und „Es wird nicht aufgestanden, bis der Teller leer ist“ habe ich noch gut in Erinnerung. Klar, damals herrschte mehr Mangelsituation, aber auch mehr Autorität den Kindern gegenüber. Deswegen haben wir diese Worte bei UNSEREN Kindern dann gemieden.

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  3. Ein heimeliges Essen zum Tagesabschluss zuhause, mit Menschen die man mag, ob tatsächlich nur belegtes Brot oder eine warme Mahlzeit, das ist für viele auch heute nicht selbstverständlich, genau wie ein gemeinsames Frühstück. Es ist ein Luxus weniger an Essen als an sozialer Lebensqualität, das hast du sehr deutlich gemacht.
    Die Eltern und Grosseltern mit der traumatisierenden „schlechten Zeit“ im Gedächtnis waren leider keine guten Lehrmeister, wie man die Zeit bei Tisch angenehm verbringt und die Erziehung über die Anleitung zu Tischmanieren hinaus auch abseits des Tisches hält. Ich kenne auch diese hässlichen, diktatorischen Situationen, Tränen im Teller und Verweise vom Tisch. Da konnte man sich nur vornehmen, es besser zu machen.

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