Wie ein Märchen

Weihnachten kommt mir noch immer so vor wie ein Märchen. Dabei habe ich in meinem Leben schon oft Weihnachten gefeiert.

Ich weiß natürlich, dass Weihnachten kein Märchen ist. Aber es klingt ein bisschen danach, wenn man in der Bibel liest, dass der liebe Gott als Mensch geboren worden ist. Im Märchen jedoch werden Kinder, vor allem Könige wie das Jesuskind, nicht in einem Stall geboren. Im Märchen geschehen ganz andere, wunderliche Dinge: Da ist ein Frosch in Wirklichkeit ein verzauberter Prinz, der mit einem Kuss zurückverwandelt wird; da schläft eine Prinzessin hundert Jahre und eine andere kann wegen einer einzelnen Erbse nicht einmal eine Nacht schlafen… Märchen erzählen eben Geschichten, über die man sich freuen, die man aber nie wirklich erleben kann. Aber dass Gott Mensch geworden ist, dass seine Nähe unsere Herzen zu bewegen vermag – das kann man erleben, ganz besonders zur Weihnachtszeit.

Dazu fällt mir eine alte Geschichte ein, die ich vor vielen Jahren gehört habe. Und sie ist bestimmt kein Märchen: Es war an einem Heiligen Abend. Ein Kind – ich weiß nicht mehr, ob ein Bub oder ein Mädchen -, also ein Kind stand voll freudiger Aufregung vor dem glänzend geschmückten Christbaum. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem prallvollen Gabentisch.

Ob das Christkind alle meine Wünsche erfüllt hat?, dachte es bei sich – und sah gleich, dass eines nicht unter den Geschenken war: ein Schaukelpferd. Das wäre am Boden gestanden und hätte ihm sofort auffallen müssen. Gerade ein Schaukelpferd hatte sich das Kind ganz besonders gewünscht. Ein eigenes Schaukelpferd war sein Traum. Doch der war für dieses Weihnachten erst einmal ausgeträumt. Nach einer kleinen Andacht, bei der Opa die Weihnachtsgeschichte aus dem Stall zu Bethlehem vorgelesen hatte, war es endlich soweit: Die Geschenke durften ausgepackt werden. Das Auspacken war immer das Allerschönste.

Da sah das Kind einen Briefumschlag am Christbaum hängen. Darauf stand: „Wer diesen Brief als erster öffnet, an den ist er gerichtet.“ Das ließ sich unser Kind nicht zweimal sagen, öffnete den Brief und las: „Du hast noch einen Wunsch frei.“ Sofort dachte das Kind an das so sehnlichst gewünschte Schaukelpferd. Doch da hörte es den Papa sagen: „Ich gehe mal rüber zu unserer Nachbarin, um ihr frohe Weihnachten zu wünschen. Das kann sie heuer bestimmt ganz gut gebrauchen.“ Ja, denn die Frau lebte seit einigen Wochen ganz alleine. Die Kinder waren schon aus dem Haus, und in diesem Jahr war plötzlich ihr über alles geliebter Mann gestorben. Wie es dieser Nachbarin wohl gerade zumute war? Wie wohl ihr sehnlichster Weihnachtswunsch lauten würde?

Der Wunsch nach dem Schaukelpferd war dem Kind plötzlich nicht mehr wichtig. Es wünschte sich deshalb erst einmal gar nichts mehr, sondern legte diesen besonderen Wunschzettel vorerst in sein Poesiealbum. Nach Weihnachten würde es gründlich überlegen, was es mit dem zusätzlichen Wunsch machen sollte.

Leider hat die Geschichte an dieser Stelle aufgehört. Es hätte mich doch sehr interessiert, was sich das Kind schließlich gewünscht hat. Wer weiß, vielleicht hat es den Zettel auch immer nur aufbewahrt und eines Tages einfach verschenkt. Was hättet ihr mit diesem Wunsch gemacht?

Ich jedenfalls wünsche Euch und allen, die Ihr lieb habt, von ganzem Herzen ein frohes und gesegnetes Weihnachten. Denn dieser Weihnachtswunsch ist jedes Jahr wieder mein Zusatzwunsch. Vielleicht kommt mir Weihnachten deshalb immer noch so vor wie ein Märchen.

Autor: Emsemsem.net

Ob gereimt oder nicht: Ich mach's und mag's kurz auf Emsemsem.net, wo es vorwiegend Aphorismen, königlich-bayrische Reimungen über den niederbayrischen Kini und Gedichte gibt. Wie gesagt: vorwiegend.

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