Vorsichtig lugte ich vom Baum herab. Es war ein gewagtes Unternehmen. Dies war mein erster Versuch und ich musste sehr vorsichtig sein. Mein kleines Herz pochte wild und unregelmäßig. Meine Äuglein huschten von links nach rechts. Der Lärm war schon jetzt atemberaubend. Auf der anderen Seite jedoch lockte das Futterparadies. In meinem Kopf schwirrten alle Warnungen meiner Freunde und Familie. „Viele haben es schon versucht. Zurückgekommen ist jedoch niemand. Jeder versprach, wieder zu kommen und von dieser Reise zu erzählen.“ oder: „Das schafft keiner. Hin und zurück- das ist reiner Selbstmord.“
In meinem Kopf summten die warnenden Stimmen. Sie übertönten den Lärm. Ich versuchte sie zu ignorieren. Meine Aufgabe benötigte die größte Aufmerksamkeit. Mittlerweile hungerten wir alle. Wir sind zu viele und haben zu wenig zu essen. Es fingen sogar schon Familienmitglieder an, sich gegenseitig wegen Futter zu bekämpfen. Hinter dem Asphalt jedoch, heißt es aus Erzählungen, sei genug da.
Langsam kletterte ich den Stamm herunter – immer auf der Hut. Noch ein paar Schrittchen und ich stand vor dem großen und grauen etwas, das die Menschen Asphalt nennen. Neben dem Lärm gab es einen gewaltigen Sog, wenn schnelle Dinger an mir vorbei fuhren. Wusch und Wisch machte es. Am liebsten würde ich umdrehen. Jedoch hatte ich gestern aufgeschnitten, dass ich es schaffen würde. „Ich komme zurück und führe euch in das Paradies!“ Wenn ich jetzt einen Rückzieher mache, verliere ich das Gesicht und wir alle hätten nichts gewonnen.
Ich versuchte einen Rhythmus dieses Wuschens herauszufinden. Doch das schien unmöglich. Je länger ich dort stand und beobachtete, desto unsicherer wurde ich. Meine Gedanken überschlugen sich. Noch dazu wurde ich aus den Baumwipfeln beobachtet – es verging schon eine ganze Weile. Bestimmt tuschelten sie, ob ich Angst bekommen würde.
Ich setzte meinen Fuß auf den Asphalt und wollte schon anfangen zu rennen, als mich etwas hart traf und zurückschleuderte. Ich fiel weich auf den Rasen. Mein Herz pochte bis in den Hals. Was war das? Wie konnte ich nur so anmaßend sein, diese Herausforderung anzunehmen! Einige Neugierige kamen vom Baum herunter, um zu sehen, wie es mir ging. Andere jedoch trauten sich sogar dies nicht nach diesem Vorfall. Wilde Spekulationen wurden um mich laut. Ist sie verletzt? Bewegt sie sich? Ist sie tot? Zieht sie den Schwanz ein?
Plötzlich stoben alle davon. Ich blieb regungslos liegen und bemerkte nichts. So sehr war ich in meinen Gedanken gefangen, das Unternehmen auszuführen. Noch nicht einmal das Beben des Rasens nahm ich war. Lediglich ein Gesicht sah ich auf einmal neben mir. Es erschien wie aus dem Nichts. Als eine Hand sich nach mir ausstreckte, kam Bewegung in meine Glieder und ich flüchtete so schnell mich meine Beine trugen auf den nächsten Baum.
Einige Zeit, nachdem wieder alles ruhig war, kletterte ich wieder herunter. Ich musste dies nicht nur für mich machen, sondern für alle, die hungerten und darbten.
Es musste eine andere Möglichkeit geben! Ich lief auf und ab. Als ich mich auf diese Weise ein gutes Stück von meinem Baum entfernte, sah ich plötzlich wechselnde Lichter. Neugierig lief ich darauf zu. Hier war genauso viel Verkehr. Dennoch! Ein Hoffnungsschimmer keimte in mir auf. Ich beobachtete, wie die blechernen Dinger immer wieder stoppten. Sogar die langsameren zweibeinigen Menschen hatten genug Zeit, die Straße zu überqueren. Hier konnte sogar meine ganze Sippe die Straße gemeinsam überqueren, wenn sie den richtigen Zeitpunkt fand.
Ich passte den richtigen Moment ab und es war merkwürdig still. Kein Sog, kein Wuschen. Nur große Füße, denen man dank ihrer Behäbigkeit problemlos ausweichen konnte. Dies dürfte selbst den Alten und Kindern nicht schwer fallen. Ich huschte über die Straße und sah das Paradies. Wie wundervoll sah es aus! Noch schöner und reichhaltiger als ich es mir vorgestellt habe. Eine riesige Grünfläche mit unendlich vielen Bäumen lag vor mir. Mein Herz raste, als ich dorthin eilte. Endlich konnte ich mich satt essen. Die Eichen waren knackig und schmeckten himmlisch. Nach der reichlichen Mahlzeit wurden meine Augenlider bleiern und ich schlief ein. Eine ganze Nacht verging. Sanft wurde ich von den Morgenstrahlen der Sonne geweckt. Sie streichelten über meinen Rücken.
Ein kleiner Snack am Morgen konnte nicht schaden, bevor ich den gleichen Weg zurück nahm.
Als ich in Sichtweite meiner Heimat kam, merkte ich schon, wie meine Artgenossen hin und her eilten. Aufgeregt wisperten sich alle etwas zu. Als ich angekommen bin, musste ich meine Geschichte mehrfach erzählen und ich war plötzlich der Held. Ich führte alle zu besagter Stelle mit den Lichtern. Keiner wurde beim Überqueren des Asphalts getötet, noch nicht einmal verletzt. Es war eine kleine Völkerwanderung, die wir hier veranstalteten. Noch im hohen Alter musste ich meine Geschichte oft erzählen. Die Jungen hingen so sehr an meinen Lippen. Die sichere Passage wurde seither fleißig benutzt, denn nach kurzer Zeit erholte sich auch der Baumbestand auf der anderen Seite wieder. Dadurch dass wir den Bäumen nun Zeit geben konnten, Nachschub zu produzieren, musste niemals jemand wieder hungern.
Dies ist ein Beitrag zu Myriades Impulswerkstatt. Der Ausgangspunkt ist das Bild Nummer 3.
Spannend – und süß.
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Danke 🙂
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Das ist ja eine nette Geschichte! Sind es Eichhörnchen ? Wäre eine gute Lösung, wenn die Tierarten für die man Tunnel und Brücken über die Straßen baut, mit Verkehrsampeln umgehen könnten. Deine mutige Hauptperson finde ich auch ganz süß und freue mich über die originelle Assoziation zu dem Foto. Vielen Dank für den Beitrag, liebe Monika
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Vielen lieben Dank für deinen Kommentar. Es freut mich sehr, dass dir die Geschichte gefällt. Ja, es handelt sich um ein Eichhörnchen .
Dir einen schönen Sonntag
Liebe Grüße Monika
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