Sonderbarer Heiliger

Als Kind habe ich nicht kapiert, warum der heilige Nikolaus schon am 5. Dezember umherzieht, obwohl sein Name erst am nächsten Tag im Kalender steht. Sowas kann nur Erwachsenen einfallen. Andererseits war mir das sowieso egal. Er kam, und das war schließlich die Hauptsache. Aber Bammel hatte ich auch immer.

Das lag nicht an seinem weißen Bart, der eher etwas Kuscheliges ausstrahlte, sondern an diesem furchterregenden Typen, den er immer dabei hatte. Das war bei uns daheim nicht der dienstfertige Knecht Ruprecht, sondern der aufbrausende Krampus.

Zwar hatte der Nikolaus, bevor er endlich seine guten Gaben herausrückte, immer auch einiges herumzumäkeln, wobei er erstaunlich gut über das, was wir Kinder das Jahr über anstellen, Bescheid zu wissen schien. Aber am Ende war immer alles gut, und man konnte sich über besagte gute Gaben, eine schönfärberische Umschreibung für Lebkuchen, Nüsse und Mandarinen, hermachen. Das war meistens nicht nach meinem Geschmack, aber Geschenk war Geschenk, und Geschenke waren bei meinem Aufwachsen eher eine Seltenheit.

Aber diesen Krampus hätte es nicht gebraucht. Der konnte echt böse sein. Wenn der Nikolaus mit seiner sonoren Stimme einen Lausbuben (Mädchen blieben auffallend verschont) entlarvte, ließ der Krampus die Rute durch die Luft sausen und traf dabei schon auch Mal einen kindlichen Körper. Ich kann mich an Berichte erinnern, nach denen es bisweilen ziemlich wüst hergegangen ist. Für mich kann ich sagen, dass ich keine solche unliebsame Erfahrung machen musste, vielleicht weil ich das jüngste von fünf Kindern war.

Einmal tauchte am Nikolausabend ein sonderbarer Heiliger bei uns auf. Er war allein. Dem Äußeren nach zu urteilen war er weder Krampus noch Nikolaus. Aber er tat so, als wäre er beide. Dauernd fuchtelte er mit der Rute herum, was mich arg einschüchterte, vor allem, wenn er damit auf den Tisch haute. Aber er haute wenigstens nicht auf uns. Er hielt sich auch gar nicht lange mit den üblichen Gardinenpredigten auf, sondern schritt überraschend schnell zur Geschenkübergabe und verschwand dann wieder.

Ich weiß noch gut, dass auch meine Eltern über dieses Nikolauserlebnis überrascht waren.

Autor: Emsemsem

Ob gereimt oder nicht: Ich mach's und mag's kurz auf Emsemsem.net, wo es vorwiegend Aphorismen und Gedichte gibt. Ein paar Kleinigkeiten gibt es auch auf youtube.de/@emsemsem.

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