Lilu – Die Schattenfresser/Teil 2

Ohnmächtig

Ich streckte meine Hände nach ihm aus. Wir drehten uns im Kreise, sprangen und tanzten auf dem Tisch herum. Ihr habt schon richtig gehört: auf dem Tisch! So seltsam es für eure Ohren klingen mag, aber Tatsachen sind nun einmal Tatsachen: Von einer Zehntelsekunde auf die nächs­te war ich fast so klein wie Lilu, vielleicht einen Fingernagel größer, und wir hüpf­ten um das Teegeschirr herum. Ein­mal bin ich sogar auf die Kandis-Dose ge­klettert und habe die Kan­diszuckerstückchen erklommen wie ein Gebirgsmassiv. Wir trieben es so toll, bis wir mit solcher Wucht an meine volle Tasse gestoßen sind, dass sie um­fiel und ihren gan­zen Inhalt über uns er­goss. Ich hatte wirklich Angst im Tee zu ertrinken und musste schwim­men wie in einem See. Die Wel­len schlugen über meinem Kopf zusammen. Ein­mal wurde ich nach oben getrieben, ein an­dermal drückte mich ein mäch­tiger Sog tief nach unten.

Ich bin ohnmächtig geworden. Irgendwann erwachte ich an einem sandigen Strand, als wäre ich Ro­binson Crusoe höchstper­sönlich. Lilu saß neben mir und sagte voller Ungeduld:

„Endlich bist du wach bist du!“

Ich hatte nicht gerade den Eindruck, dass er sich freute, mich wieder bei sich zu haben und am Leben zu sehen. Das war für ihn offenbar selbstverständlich.

„Du hättest doch auch einen einfacheren Weg nach Liluland wählen können. Du kannst doch alles, was du willst“, begehrte ich auf.

„Daran habe ich gar nicht gedacht. Aber jetzt kann man nichts mehr machen kann man nicht.“

„Warum nicht?“

„Weil ich nicht will.“

„Wie es hier aussieht! Wie an einem Meeresstrand.“

„So sieht es jenseits des Wassers nun einmal aus.“

„Jenseits des Wassers? Das klingt wie jenseits des Jordan. Mach mir keine Angst, hörst du!“

„Wir sind in Liluland, das solltest du allmählich kapiert haben solltest du!“

„Und wie geht’s jetzt weiter?“

„Wir müssen nach Lilustadt.“

„Ist das weit?“

„Wir fliegen einfach, das ist kein Problem.“

„Meinst du? Fürs Fliegen habe ich ohne technische Hilfsmittel aber überhaupt kein Ta­lent. Ich meine, einfach die Arme ausbreiten und es den Vögeln nachmachen würde unange­nehme Konse­quenzen für mich haben.“

„Mach dir nichts draus, dass du kein Vogel bist. Wir kriegen das schon hin kriegen wir.“

Mich beschlich die Ahnung, dass Lilu meinen zaghaften Einwand nicht gelten ließ. Wenn etwas gefährlich wurde, ließ er Einwände, jedenfalls meine, eigentlich nie gelten.

„Du stellst dich einfach hin“, erklärte er kühl, „bückst dich nach vorne, ich versetze dir einen Tritt in denjenigen, auf dem du sitzt, und schon schießt du in den Wind und fliegst.“

„Können wir nicht zu Fuß gehen?“ fragte ich.

„Dazu haben wir keine Zeit. Wir müssen möglichst schnell in Li­lustadt sein.“

„Ich möchte, ehrlich gesagt, möglichst schnell wieder daheim sein bei meiner Tasse Tee.“

Lilu hörte mir gar nicht zu. Um in Lilustadt – er war schließlich das Oberhaupt des Lan­des – nicht erkannt zu werden, nahm er einige Veränderungen an sich vor. Er maskierte sich, wie er sagte. Aber das trifft den Sachverhalt nicht ganz. Er drückte vielmehr ein bisschen an sich herum, an der Nase z.B., an seinem Kopf, seinen Armen und Beinen, und schon war sein Kopf schmäler, sein Bauch schlank, die Nase gerade, die Ohren abste­hend, Arme und Beine län­ger. Es ging nicht um Schönheit, sondern darum, nicht erkannt zu werden. Sogar seine Stimmbänder verlän­gerte er, um tiefer sprechen zu können. Obwohl ich im Vergleich zu meiner ursprünglichen Ge­stalt schon sehr verändert war, unterzog mich Lilu ebenfalls ei­ner kos­metischen Ra­dikalkorrektur. Ich war ihm noch nicht klein genug, und auch mit mei­nem sonstigen Aussehen war er nicht einverstan­den. Er schlug mir mit der Faust auf den Kopf, so dass ich zusammen­sackte als wä­ren meine Knochen nichts an­deres als ein hydrauli­sches System, dem man das Wasser entzog. Weiter ging es mit Hieben und Püffen an den verschieden­sten Stel­len, die ich mir unter ande­ren Umständen ver­beten hätte, und erneut war ich ein anderer. Hätte ich einen Spiegel ge­habt, hätte mir mein Abbild gewiss miss­fallen.

„Warum machst du mich hässlich?“

„Ich habe getan, was ich konnte.“

Was ihr hier womöglich als zweideutig versteht, war von Lilu mit Sicherheit eindeutig ge­meint. Deshalb war jeder kritische Einwand meinerseits unnötig.

„Und jetzt noch der Tritt in den Hintern! Bück’ dich!“ befahl mein Freund, dessen Größe sich nicht mehr wesentlich von der meinen un­terschied. Ich hatte sogar das Gefühl, dass mich Lilu ein bisschen kleiner gemacht hatte als er war. Heute, da ich wieder mit meiner gewöhn­lichen Körper­größe ausgestattet bin, fällt es mir leicht über dieses Erlebnis zu schreiben. Aber stellt euch nur einmal selbst vor, ein Zauberer würde euch kleiner machen! Ihr hättet be­stimmt Bammel, dass ihr vielleicht für immer so bleiben müsstet. Ich jeden­falls hatte Bam­mel.

„Halt! Nicht so schnell!“ rief ich ihm zu. „Was muss ich in der Luft tun? Muss ich irgen­detwas tun? Oder fliege ich wie von selbst?“

„Am besten bewegst du dich wie beim Schwimmen. Sonst noch was?“

„Tritt nicht zu fest!“

Vermutlich hat er das nicht gehört. Denn ein starker Stoß er­schütterte mich. Mit großer Wucht erhob ich mich in die Luft und – flog!

Und wieder war ich ein anderer…

Bei den Schattenfressern

Eigentlich sollte ich jetzt leicht, luftig und geschmeidig erzäh­len. Die Sätze müssten nur so aus mir heraussprudeln. Leider muss ich euch um Verständnis bitten: Es gelingt mir nicht. Selbst zu flie­gen wie ein Vogel ist im wahrsten Sinne des Wortes unbeschreib­lich! Wie oft habe ich mir schon gewünscht, einfach die Arme aus­zubreiten und nur, weil man die Lust dazu verspürt, auf einen der beiden Türme der münchner Frauenkirche zu fliegen. Und jetzt flog ich tatsächlich! Wenn ihr euch vorstellt, im Wasser zu tauchen und euch zugleich das Wasser wegdenkt, dann habt ihr eine kleine Ah­nung von dem, was ich fühlte. Ihr könnt euch selbst über­legen, was ihr tun würdet, wenn ihr fliegen könntet.

Ihr würdet euch in die Wolken stürzen, euch fallen lassen und dann wieder rasant nach oben steigen, auf dem Rücken fliegen, mit dem Wind tanzen. Ich habe das bestimmt so ge­macht, kann mich aber nicht daran erinnern, weil ich so überwältigt war. Wer zum ersten Mal mit der Achter­bahn gefahren ist, kann sich nachher auch nicht an Einzelheiten erinnern. Das kommt erst, wenn man öfter fährt. Aber damals, auf meinem Weg nach Liluland, wo ich helfen sollte, die verlorene Phantasie wiederzufinden, damals bin ich zum ersten und zum einzigen Mal wirklich geflogen. Ach, wenn die Vögel erzäh­len könnten!

Ich kann mich allerdings nur zu gut erinnern, dass ich plötzlich in einer Wolke, die ei­gentlich gar keine Wolke, sondern eher ein gekauter Kaugummi war, feststeckte! Ich will mich gerade durch diese vermeint­liche Wolke stürzen, da klebe ich auch schon mit dem Ge­sicht daran fest­, so dass ich keine Luft mehr bekomme. Steckt euch mal Kau­gummi in die Nase und haltet den Mund zu, dann wisst ihr, wie das ist. Dann seid ihr bald tot. (Also lasst das schön bleiben! Sonst liest keiner mehr meine Geschichten.)

Aus! Für mich war es aus! Das letzte, was ich dachte, war: Lilu! Ich habe ihn bei meinen übermütigen Eskapa­den in der Luft aus den Augen verloren – und auch aus dem Sinn. Mir schwand das Bewuss­tsein.

Als ich erwachte, war ich irgendwo, aber ich wusste nicht, wo. Al­les war grau. War ich tot? Ich sah einen Schatten, der keine kla­ren Ränder hatte. Stellt euch die Flamme einer Kerze vor. Sie ist um den Docht blau, sie brennt gelb, und dort, wo sie die Luft be­rührt, ist sie unscharf wie ein Gegenstand auf einem Foto, der mit einem Weichzeichner aufgenommen worden ist. So ähn­lich sah dieser Schatten aus. Er hatte ein bisschen die Form eines Men­schen; aber Kopf, Arme und Beine konnte man nur erahnen.

Plötzlich bewegte er sich auf mich zu. Wo kam dieser Schatten her? Jeder Schatten braucht Licht, um zu sein. Aber hier war nir­gends Licht! Nirgendwo befand sich ein Gegen­stand oder ein Mensch, der diesen Schatten hätte werfen können. Dennoch bewegte er sich auf mich zu! Ich be­kam Angst. Lebte dieser Schatten aus sich her­aus? War das ein körperlo­ses Wesen, das – lebte? Ein Geist?

Dieses Ding, Wesen, Etwas… Es gibt kein Wort für das, was es war. Wie sollte ich es be­zeichnen? Es war ein… Ja: ein lebender Schatten! Nichts anderes. Ein Schatten. Oh, ich hatte große Angst! Jeder hat Angst vor der Wirklichkeit, der er keinen Namen geben kann. Heute frage ich mich allerdings: War das wirklich eine Wirk­lichkeit? Das Schlimmste kommt jedoch erst noch. Macht euch auf was gefasst.

Noch heute, wenn ich daran zurückdenke… Ich muss mich zwingen, die Worte niederzuschrei­ben, um euch zu erzählen, was mir im Reich der Schatten an Entsetzlichem widerfahren ist. Ich bin nämlich selbst einer von denen geworden! Ja, plötzlich musste ich erkennen, dass sie aus mir einen Schatten gemacht haben! Und das Schlimmste: Es machte mir nichts aus. Es war mir gleichgültig. Ich lebte ein­fach so wie jedes an­dere Mitglied des Schattenreiches auch. Ich lebte, als hätte ich keine Seele. Wie sollte das auch gehen, wo ich doch kein Mensch mehr war!

Diese Welt hier war wie eine Maschine. Alle funktionierten nur. O nein! Erst jetzt wird mir bewusst: Diese Schatten waren gar keine Lebewesen! Sie funktionierten nur, es waren nur see­lenlose Exi­stenzen! Und ich war eine davon…

Die Schatten fraßen in einem fort, und als würde mich ein In­stinkt leiten, fraß ich ebenso me­chanisch wie sie. Wir fraßen, was um uns war und was wir selbst waren: Schatten! Stän­dig dieses rei­ßende, schabende, mahlende, rhythmische Geräusch. Niemand achtete auf den anderen. Jeder fraß. Man fraß sich gegenseitig, ohne sich aus­zulöschen, weil ja niemand lebte. Der Schatten, diese Nahrung, die durch das Licht wächst, aber kein Licht ist, wuchs wie von selbst, er wu­cherte, je mehr man ihn fraß. Wo war das Licht, das die Schatten ge­biert?

Ich kann mich nur sehr vage erinnern. Es sind die Träume, die mein Ge­dächtnis über jene Zeit der Zeitlosigkeit speisen. Nachts, wenn ich schlafe, träume ich oft davon. Es sind Dinge, die sonst kein Traum zeigt, die ich jedoch erlebt habe. Oft wache ich aus diesen Alpträumen auf und habe Angst; doch dann freue ich mich, dass ich frei bin für das Le­ben.

Ich möchte diese Geschichte am liebsten ganz abbrechen, die zu erzählen ich besser nie begon­nen hätte. Aber ich muss sie zu Ende bringen, nach­dem ihr mir bis hierher gefolgt seid. Dennoch frage ich mich un­ablässig, was wohl in euch vorgehen mag, wenn ihr dies lest.

Lilus Taschenlampe

An Einzelheiten kann ich mich, wie ich schon sagte, ohnehin nicht erinnern. Auch meine Träume von diesem Schattenreich sind nicht so, dass sie sich in Worten wiedergeben ließen. Es gab dort keine Zeit, gemacht aus Ver­gangenheit, Gegenwart und Zukunft. Alles war gleich. Aber wie war alles? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich nie mehr dorthin möchte. Nie mehr! Ich weiß auch, dass es ent­setzlich laut war, und ich frage mich, wie ich das ausgehalten habe. Als Schat­tenwesen ist man stumpf gegenüber allem, ob ange­nehm oder unange­nehm. Man kennt keine Freiheit. Deshalb lässt man geschehen, was geschieht, auch seine Existenz, die ebenfalls nur mit einem ge­schieht. Das klein­ste Staubkorn auf unserer Erde scheint mir näher am Leben dran zu sein als diese armen Schatten­wesen.

Doch ich bin, Gott sei Dank, freigekommen.

Mithilfe einer Taschenlampe, einer simplen Taschenlampe. Lilu be­tätigte sich wie ein Mensch, der einer Schildkröte, die hilflos auf dem Rücken liegt, wieder auf die Beine hilft. Und das, in­dem er den Lichtkegel, den eine Taschenlampe absondert, im Schatten­reich leuchten ließ. Eine geniale Idee! Dort, wo sich Schatten über das Licht legen und es fressen, hilft nur: Licht und wieder Licht. Dann hat der Schatten keine Chance. Aber Licht kann nur leuchten, wo es Energie gibt. Das ist der Vorteil des Schattens, er braucht keine Energie. Er ist ein Parasit des Lichts. Ich war wie ein ausgetrocknetes, dürres Fleckchen Erde, das gierig den sehnlichst erwarteten Regen aufsaugt. Genauso saugte ich jede Lichtwelle aus Lilus Ta­schenlampe auf, mit der er die Schatten dieses Reiches zerriss.

Ein Aufatmen durchströmte uns alle. Ein kleines Glimmen ge­nügte, und die in Gang ge­setzte Energie gab den Existenzen ihr Le­ben zu­rück.

Bald war ich auf dem Heimweg, und bald saß ich wieder zu Hause. Als ich die umge­stoßene Tasse wieder aufgerichtet hatte, kam Toni zurück und sagte: „Falsch verbunden.“ Und ich: „Ich habe den Tee umgeschüt­tet.“

Da hörten wir Trampeln auf der Treppe. „Papa! Aus deinem Arbeits­zimmer kommt Licht, wie von einer Taschenlampe“, rief Timo. Toni blickte mich verdutzt an.

Ich zuckte nur mit den Schultern.

Ende der Lilu-Geschichten. Wenn es Euch auch nur ein bisschen gefallen hat, freut es mich riesig.

Autor: Emsemsem

Ob gereimt oder nicht: Ich mach's und mag's kurz auf Emsemsem.net, wo es vorwiegend Aphorismen und Gedichte gibt. Ein paar Kleinigkeiten gibt es auch auf youtube.de/@emsemsem.

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