Es gibt doch tatsächlich Menschen, die nichts dafür übrig haben, wenn es in ihrem Leben – und sei es auch nur für ein paar Stunden – gemütlich zugeht. Ich gehöre nicht zu denen, und ihr sicher auch nicht. Ihr würdet sonst kaum diese Geschichten über Lilu vom Stamme der Lulis zur Hand nehmen und darin lesen und dabei vielleicht eine wunderbar duftende Tasse Tee mit Kandiszucker schürfen.
Ein freies Wochenende
Es war an einem Samstag, und ich hatte ein freies Wochenende. Ein freies Wochenende heißt für mich: Ich habe frei am Samstag und am Sonntag. Ich bin daheim bei meiner Familie, bei Bea, Timo, den man, seit er die Schulbank drückt, nicht mehr mit „H“ schreiben muss, und bei Toni. Ich habe Zeit für Ruhe und Muße, kann ein Buch lesen, in Zeitschriften blättern und zusammen mit Toni in unserem kleinen Wintergarten eine Tasse Tee, natürlich mit Kandiszucker, trinken. Das Knistern des Kandis zu hören, wenn er in die goldene Flüssigkeit eingetaucht wird, ist so schön heimelig. Toni nimmt lieber gewöhnlichen Zucker, der ziemlich prosaisch in den Tee geschüttet wird, ohne zu knistern, und sich viel zu schnell auflöst. Kandis erst bringt den Tee zum Singen!
So gemütlich und ruhig ging es an jenem Samstag bei uns zuhause zu. Ach, wie war es gemütlich! Toni und ich lasen und ließen es uns schweigend gut gehen. Gelegentlich wurde das Gelesene mit einem Seufzen, einem Lachen oder was auch immer kommentiert. Hin und wieder entspann sich ein kurzer Dialog über einen soeben gelesenen Satz. Manchmal schweiften unsere Blicke über unseren kleinen Garten, der leicht verwilderte, während man in der Nachbarschaft harkte und jätete und auf Knien jedem Löwenzahn nachjagte.
Wie üblich klingelte das Telefon in diese urige Gemütlichkeit hinein. Vielmehr „klingelte“ es eigentlich gar nicht. Diese Heulbojen der Technik geben keinen Klingellaut mehr von sich. Mit einem künstlich tremolierenden Heulton rufen sie nach uns. Eines allerdings haben diese modernen Telefonapparate mit den alten klingelnden, die man noch mittels angenehm knisternder Wählscheibe in Gang setzte, gemeinsam: Sie rufen meistens dann nach uns, wenn es uns am wenigsten passt und wir – beispielsweise – gerade gemütlich eine Tasse Tee trinken und lesen.
Sofort überlegt man sich in Augenblicken wie diesem – aber nur ganz kurz -, ob man dem modernen Leben mit einem schnurlosen Telefon ein Schnippchen, es gewissermaßen mit den eigenen Waffen schlagen könnte. Wenn man aber weiter nachdenkt, sieht man ein, dass es auch telefonfreie Zonen im Leben eines Menschen geben muss, die ein schnurloses Gerät skrupellos und im Nu erobern würde.
Ein Handy wäre ebenfalls eine Lösung. Doch auch dagegen spricht das vorige Argument. Allerdings hätte ein solches Handy für mich einen unschätzbaren Vorteil. Ja, es würde sogar schon eine Handy-Attrappe, die es geben soll, für mich genügen. Die drücke ich einfach an ein Ohr, während Lilu auf dem anderen sitzt und mir in meine Gedanken hineinredet. Dann gäbe ich vor zu telefonieren, und niemand mehr würde mich verdutzt ansehen, wenn mir Lilu einen deutlich vernehmbaren Laut entlockt. Man würde mich einfach für einen vielbeschäftigten Menschen halten.
Kandiszucker mit Nase
Toni ging an den Apparat. Ich vertiefte mich weiterhin in meine Lektüre („Leben. Eine Gebrauchsanweisung“ von Georges Perec). Bea und Timo waren im Keller mit irgendeinem Spiel zugange, das mit dem Film „The Flintstones“ zu tun haben musste, weil immer wieder das berühmte „Yabba-Dabba-Doo“ zu hören war. Ohne von meinem Buch aufzusehen, tappte ich mit der rechten Hand nach meiner Tasse, um einen Schluck Tee zu nippen. Puh! Das schmeckte bitter! Ich hatte den Kandiszucker vergessen. Wiederum ohne im Lesen innezuhalten, griff ich nach dem Kandis, tastete nach den bizarren braunen Kristallen – und schreckte zusammen! So fühlt sich kein Kandis an, so rund und so weich. Und vor allem hat Kandiszucker keine Nase.
Ihr ahnt es natürlich schon. Kein anderer als Lilu hockte auf dem Kandisgeröll. Er sah mich mit weinenden Augen an. Ja, konnte es das geben? Ein Lilu, der weinte? Ich gab mich betont reserviert.
„Na“, sagte ich, „da bist du ja wieder. Wir haben uns schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen.“
„Ach was! Halbe Ewigkeit! Weißt du überhaupt, was das ist, eine Ewigkeit?“
Aus seiner Aufmüpfigkeit zu schließen, war er ganz der Alte, stets darauf aus, mich aus dem Konzept zu bringen. Sofort gab ich meine Zurückhaltung auf.
„Aber du weißt es natürlich, oder?“
„Ich weiß, was ich will!“
„Und du tust, was du willst. Das kenne ich zur Genüge.“
Seltsam. Lilu entgegnete nichts. Ich hätte in jedem Falle erwartet, dass er diese Aussage in überschwenglicher Form bestätigte. Aber er sagte unbegreiflicherweise nichts. Was hatte er nur? Sein Gesicht drückte eine Niedergeschlagenheit aus, die ich noch nie an ihm wahrgenommen hatte. Wie kann man derart traurig sein, wenn man tun kann, was man will?
„Lilu, mein Freund, warum sagst du nichts?“
Da brach es aus ihm hervor. Die Tränen überfluteten sein kleines Gesicht. Er schluchzte, dass es ihn nur so schüttelte und man befürchten musste, er würde in seinen Tränen ertrinken.
„Ach, du hast es ja so schön! Ich möchte auch ein Mensch sein wie du einer bist. Groß und in die Arbeit gehen müssen. Und sonst nichts. Und Liluland soll es nicht mehr geben. Und ich will, dass es mich nicht mehr gibt. Ab sofort!“ Pause. Dann tiefes Schluchzen: „Aber ein Lilu vom Stamme der Lulis kann nicht sterben.“
Von was redete er? Selbstmord? Was war los mit ihm? Ich machte mir ernsthafte Sorgen um meinen kleinen Freund. Stimmungen dieser depressiven Art kannte ich gar nicht an ihm.
„Was redest du da für Unsinn?“ fragte ich ihn.
„Das ist kein Unsinn ist das nicht! Ich möchte einfach aufhören. Es ist so furchtbar!“ Und wieder weinte er, noch hemmungsloser als zuvor.
Ich musste einschreiten. Am einfachsten schien es mir, ihn zum Widerspruch zu reizen. Das musste seine Lebensgeister wieder wecken.
„Meinetwegen“, sagte ich betont lässig, „hör auf, wenn du unbedingt willst! Soll ich dir helfen? Koffer packen und so? Wem willst du dein Vermögen vermachen, falls du welches hast?“
Ich hatte Pech. Meine Masche verfing nicht. Ich sollte ihn aus meinen Lilu-Geschichten streichen, sagte er, ihn von der Welt verbannen, als hätte es ihn nie gegeben.
Jetzt reichte es mir.
„Was bildest du dir eigentlich ein? Ob du verschwindest oder nicht, ist alleine meine Sache. Ich schreibe Lilu-Geschichten, solange es mir passt, auch wenn ich der einzige sein sollte, der sie liest! Erst wenn es mir nicht mehr passt…“
Da weinte er erst recht.
„Du bist gemein! Versteh’ mich doch! Liluland ist dem Untergang geweiht. Man kann niemandem mehr trauen. Die Liluländer haben ihre Phantasie verloren, seit sie in Lilustadt das Mausolilum gebaut haben zu Ehren eines gewissen Lilin vom Stamme der Nilis. Der ist da drin, und man weiß gar nicht, ob es den überhaupt mal gegeben hat. Er könnte eine Puppe sein, weil er sich gar nicht bewegt. Aber er wird wie ein Heiliger verehrt. Und sagenhafte Geschichten werden von ihm erzählt. Und jeder erfindet neue Geschichten, und jedem ist es egal, ob sie wahr sind. Und jeder lügt jeden an. Und jetzt misstraut jeder jedem, und die Phantasie ist tot. Und Liluland auch bald.“
Die Kassiererin vom Mausolilum
Lüge in Liluland? Das konnte ich mir gar nicht vorstellen. Deshalb glaubte ich die Geschichte auch nicht so recht. Mir schien es vollkommen abwegig zu sein, dass Liluland plötzlich verschwinden sollte.
„Aber du bist doch das Oberhaupt von Liluland“, sagte ich. „Hast du denn nicht eingegriffen, um diese Entwicklung zu stoppen?“
„Ach was, eingegriffen! Da sieht man mal wieder, dass du von Phantasie keine Ahnung hast, nicht die geringste, du Schreiberling! Man kann Phantasie nicht regeln, und eingreifen kann man da schon gar nicht. Man muss sie zulassen. Die Liluländer sind dabei, sich selber aufzugeben, und sie merken das nicht einmal! Sie starren wie gebannt auf dieses Mausolilum, das da eines Tages mitten in Lilustadt aufgebaut war, als wäre es vom Himmel gefallen.“
„Hast du dieses Mausolilum denn schon einmal von innen gesehen?“
Ich war nach wie vor skeptisch.
„Nein!“ rief Lilu. „Niemand hat das!“
„Und trotzdem soll eine so unheilvolle Macht davon ausgehen?“
„Ja, leider.“
„Aber warum sieht sich das denn keiner an? Ihr Liluländer braucht doch keine Angst zu haben, du schon gar nicht.“
„Weil es scharf bewacht wird von einer…“
„Von einer was?“
„Von einer…ich kann es gar nicht aussprechen.“
Erneut weinte er los.
„Na los! Sag schon!“
„Von einer Kassiererin!“
„Von einer Kassiererin?“
Unfassbar! Wegen einer Kassiererin traut sich kein Liluländer ins Mausolilum?
„Na und!“ meinte ich. „Wo ist das Problem? Zahlt ihr doch den Eintritt und geht rein! Das ist doch nichts Besonderes. Bei uns musst du sogar für dein Begräbnis zahlen.“
„Mensch, begreifst du denn nicht! Bei uns in Liluland gibt es kein Geld. Wir haben keine Währung, weil wir ein Land sind, das aus der Phantasie lebt. Hier macht man, was man will, hier kann man das auch, weil bei uns die Phantasie regiert.“
„Du regierst!“
„Und ich bestehe nur aus Phantasie.“
„Und niemand kommt an der Kassiererin vorbei?
„Niemand! Deshalb erzählt man sich ja diese vielen Lügen. Denn dort, wo man etwas verbirgt, wächst die Neugier. Und plötzlich macht sich einer wichtig und behauptet, er kennt das Geheimnis. Neid taucht auf und Misstrauen und Missgunst. Das kennst du ja auch von euch Menschen. Und schon ist aus der Phantasie die Luft raus. Das kennst du ja auch von euch. Und trotzdem wäre ich jetzt lieber einer von euch.“
Wenn ich richtig verstanden hatte, befand sich Liluland in einer existentiellen Krise wegen eines Mausolilums, das einem gewissen Lilin vom Stamme der Nilis geweiht war und den niemand kannte, den nur jeder für wichtig hielt.
„Du musst mir helfen!“ sagte Lilu und sah mich herausfordernd an.
„Ich? Das kann ich doch nicht. Ich habe jetzt überhaupt keine Zeit.“ Ich wollte weiterlesen. Und Tee trinken.
„Du bist für mich verantwortlich!“ sagte er unerwartet selbstsicher. „Jetzt, wo ich dich brauche, kannst du dich nicht einfach zurückziehen. Sonst ist es wirklich aus mit uns beiden. Weil es mich dann wirklich nicht mehr gibt.“
„Mit uns beiden? Wie meinst du das?“
„Das wirst du dann schon sehen wirst du.“
„Aber ich trinke doch gerade Tee. Der wird mir ja kalt.“ Ich weiß, das war schäbig von mir.
Er, aus dessen Augen vor kurzem noch wahre Ströme von Tränen flossen, die Kandis-Stückchen, auf denen er hockte, nass machten, sah mich mit bitterer Enttäuschung an. Sein kleines Gesicht machte große Augen. Er war zu keinem Vorwurf mehr fähig, den er mir sonst bestimmt an den Kopf geschleudert hätte. Für ihn war ich einer, der Liluland wegen einer gemütlichen Tasse Tee aufgegeben hatte. Er würde nun auch aufgeben, aufhören zu existieren, verschwinden.
„Bring mich sofort nach Liluland!“ sagte ich. „Ich lasse meinen Lilu nicht im Stich. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät.“
„Wir schaffen es, wir beide!“ sagte er. „Wir werden ihnen schon zeigen, dass hinter diesem Mausolilum nichts steckt.“ Er tanzte auf dem Kandis herum, und wieder weinte er. Dieses Mal aber Tränen der Freude. Für ihn war Liluland gerettet.
Teil 2 folgt nächsten Mittwoch.
Ein Gedanke zu „Lilu – Die Schattenfresser/Teil 1“