Mulmiges Gefühl
Ich ging vorbei am Burkhof, wo ich auch heute noch sehr gerne eine Tasse Kaffee im Stehen trinke. Als ich in die Weinstraße neben dem Rathaus einbog, überkam mich ein leicht mulmiges Gefühl. Ich dachte an das bevorstehende Gespräch im KuMi. Es war nämlich durchaus möglich, dass, wenigstens für ein paar Minuten, der Minister persönlich an dem Gespräch teilnahm, und einem Vertreter der Bayerischen Staatsregierung gegenüberzusitzen, ist schließlich keine alltägliche Angelegenheit. Über die Schäfflerstraße und am Dom vorbei, wo bei Sturm, wie auf Warnschildern steht, Gefahr droht, ging ich hinüber zum Loden-Frey. Für ein paar Augenblicke besah ich mir vor der Herder-Buchhandlung die verbilligten Bücher, die auf Tischen ausgelegt waren.
Da blitzte vor meinem tagträumenden Auge das Bild des bayerischen Kultusministers als einer mächtigen und furchteinflößenden Gestalt auf. Und ausgerechnet zu dem hatte man mich entsandt! Er sah aus wie der Boss einer Verbrecherbande im wilden Westen Amerikas, der von einigen untergebenen Banditen umsäumt war, die nichts anderes zu tun hatten, als ihm jeden Wunsch zu erfüllen, und sei es, einen missliebigen Zeitgenossen umzulegen. Er erteilte seine Befehle mit einem leichten Runzeln der Augen oder mit einem kurzen Fingerschnippen. Ein Schnippen konnte genügen, und einem ging es an den Kragen.
„Blödsinn!“ dachte ich. Ich ließ ab von den Büchern und ging hinüber zu Rudis Café.
„Sag mal“, hörte ich Lilu, „da war gerade etwas in deinem Kopf los.“
„Ja, aber das geht dich nichts an.“
„Du hast Blödsinn gedacht hast du.“
„Ja und? Das denke ich öfter.“
Ich hoffte, dass Lilu meine Tagträumereien nicht mitbekommen hatte.
Doch dann fragte er, unschuldig wie ein Kind: „Was ist ein wilder Westen?“
„Ach Lilu!“ stöhnte ich. „Eigentlich geht dich nicht alles, was in meinem Kopf vor sich geht, etwas an.“
„Wer weiß, vielleicht ist das einmal ganz gut, und ich kann dir bei was helfen.“
„Der wilde Westen, das sind Cowboys, Indianer, Sheriffs, Banditen“, dachte ich. „Das kennst du doch.“
„Ach das! Das kenne ich von deinem Fernseher. Peng! Peng! Mit meiner Fernsehfernbedienung kann ich tun, was ich will, weil sie eine besondere Fernsehfernbedienung ist.“
„Marke Eigenbau!“ spottete ich.
„Auch mit dir. Alles, was im Fernsehen kommt, kann Wirklichkeit…“
„Ach Blödsinn!“ dachte ich mit außerordentlicher Heftigkeit, und Lilu hörte abrupt zu reden auf. Mir hätte auffallen müssen, dass das seltsam war. So etwas ist doch nicht typisch für meinen Freund Lilu. Ja, er lachte sogar kurz und dabei auffallend hämisch auf. Doch ich maß dem keine Bedeutung bei.
Komm näher, Mister!
Ich betrat Rudis Café. Früher hat hier ein amerikanischer Unterhosenfabrikant namens Calvin Klein seine Unterhosen an Mann und Frau zu bringen versucht. Rudi hatte seit dem letzten Mal offenbar renoviert. Jedenfalls war die Tür neu. Sie bestand aus zwei Schwingflügeln, die ein wenig wie Fensterläden aussahen. „Passt irgendwie nicht recht“, dachte ich, worauf Lilu wieder leise lachte. Ich drückte gegen die Tür und trat ein. Und da sah ich vorne am Tresen den bayerischen Kultusminister! Ich war regelrecht erschrocken. Er trug Jeans und einen für München ungewöhnlichen Hut. Er lehnte mit vier weiteren Männern am Tresen und stützte seinen rechten Fuß auf einer von Messing blitzenden Stange, die über die ganze Vorderfront des Tresens verlief, lässig ab. Ich fand es ziemlich ordinär, als er in hohem Bogen in ein Gefäß spuckte, das wie eine Vase aussah.
„Komm näher, Mister!“ sagte er und winkte mir lässig zu. Mit gemischten Gefühlen kam ich dieser Einladung nach, wobei ich nicht wusste, ob sie freundlich oder drohend ausgesprochen worden war.
„Einen Rachenputzer für meinen Freund!“ Mit flinken Händen stellte Rudi ein Glas vor mich und schenkte bis an den Rand ein: Whisky!
„Prost!“ raunzte der Minister und leerte sein Glas in einem Zug. „Na, Mister! Du trinkst wohl nicht mit jedem?“
Er riss an meiner Hose ein Streichholz an und entzündete eine Zigarette, die er sich zuvor mit einer, also einer einzigen Hand betont lässig gedreht hatte. Zitternd erhob ich das Glas und sagte: „Zum Wohl, Herr Minister!“
„Habt ihr gehört? Minister nennt er mich! Du gefällst mir, Mister!“ Und er klopfte mir, während ich trank, voll auf die Schulter, so dass ich mich verschluckte und Whisky versprühend loshustete.
„Du verträgst wohl nicht viel, was, Mister? Rudi, mach sein Glas noch einmal voll! Der Mister hier hat was nachzuholen!“
Da bemerkte ich den wunderschönen Gürtel des Ministers, den er um die Hüfte trug und an dem zwei Revolver…war hier Fasching, fragte ich mich oder…
Wieder hörte ich dieses leise Lachen und wusste Bescheid:
„Lilu!“ rief ich. „Du hörst sofort mit diesem Unsinn auf!“
„Rudi heißt er“, sagte der Minister. „Und merk dir eins: Wenn ich sage, er soll dir das Glas vollmachen, dann tut er es, bis ich sage, er soll aufhören. Hör auf, Rudi! Das Glas läuft ja schon seit einer halben Stunde über!“
„Tschuldigung, Mister! Aber Sie haben noch nichts von aufhören gesagt.“
„Hahaha!“ Dreckig lachte der KuMi. „Du bist ein schlaues Kerlchen, scheint mir. Ich kann es aber nicht leiden, wenn jemand witzig sein will und dabei Whisky verschüttet, stimmt’s, Männer?“
„Stimmt, Boss!“ antworteten unisono die vier Männer, die den KuMi begleiteten, und jeweils zu zweit links und rechts den Minister einsäumten.
„Leck’s auf!“ befahl der KuMi und sah Rudi durchdringend an.
„Aber Mister! Ich trinke nicht!“
„Du sollst auch nicht trinken – das nehmen wir dir schon ab, stimmt’s, Männer?“
„Stimmt, Boss!“
„Du sollst nur auflecken!“
Die vier Männer zückten gleichzeitig und sehr langsam ihre Revolver, die sie, nachdem sie die Hähne gespannt hatten, auf den Tresen legten.
Rudis Kinnlade klappte herunter.
„Leck’s auf! Oder willst du, dass einige der Kugeln, die schön ordentlich in diese ästhetisch geformten Apparate integriert sind, Bekanntschaft mit deinen Herzklappen suchen?“
„Aber natürlich lecke ich’s auf!“ sagte Rudi sofort. „War nur ein Scherz. Wär’ doch schade um den Whisky!“
„Jetzt verstehen wir uns.“
Zitternd tastete sich Rudis Zunge über den Tresen und wischte ihn blank.
„He du!“ sagte der KuMi und rempelte den Mann an seiner linken unsanft an. „Sieh zu, dass ein bisschen Stimmung in den Laden kommt.“
„Klar, Boss, Stimmung. Äh…“
„Ist noch was?“
„Äh, wie soll ich Stimmung machen?“
„Wirf die Musikbox an, du Blödel!“
Schon bald erklang Chris Roberts Uraltschlager „Hab’ ich dir heute schon gesagt, dass ich dich liebe?“ aus dem Lautsprecher.
„Und nun zu dir, Fremder!“ sagte der KuMi zu mir. Er musste gemerkt haben, dass ich mich gerade auf diskrete Art verziehen und die Polizei rufen wollte. „Komm her! Rudi wird es eine Ehre sein, dich auf Kosten des Hauses zu einem Drink einzuladen, nicht wahr, Rudi?“
„Und ob!“ sagte Rudi. Er hatte seine Lektion von vorhin gelernt und schenkte sofort ein Glas voll.
„Trink, Fremder!“ Auch ich hatte Rudis Lektion gelernt und trank das Glas in einem Zug leer.
„Ich sehe, wir verstehen uns, Fremder! Du musst wissen, dass es eine Ehre ist, mit mir zu trinken. Stimmt’s, Männer?“
„Stimmt, Boss!“
„Was führt dich in unsere Stadt, Fremder?“
„Ich habe einen Termin beim Kultusminister.“ sagte ich, ohne lange zu überlegen.
„Bei was für einem Mister?“
„Beim Kultusminister.“
„Du meinst den Coltladen da vorne? Brauchst Du eine Knarre?“
„Eigentlich…“
„Dann lass dir eins gesagt sein, Mister: Hier in der Stadt gibt es rechts und links der Isar nur ein Gesetz, und das bin ich. Ich stelle hier die Regeln auf und überwache höchstpersönlich deren Einhaltung. Stimmt’s, Männer?“
„Stimmt, Boss!“
„Ich rate dir, mach mit deinen Händen keine Waffe dreckig, sonst könnte es sein, dass du sehr bald ein Loch in unserem Friedhof füllen wirst.“
„Na klar. Ich muss ja eigentlich nur aufs Klo.“
„Aufs Klo muss er!“ Der KuMi lachte. „Du bist nur auf der Durchreise! Sag’ das doch gleich! Klar kannst du aufs Klo gehen. Dann trinken wir noch einen, bevor du dich wieder auf die Socken machst.“
Teil 4 folgt nächsten Mittwoch.
Ein Gedanke zu „Lilu – Die Fernsehfernbedienung/Teil 3“