Was ist der Mensch? Das ist eine Frage, die mich als Freizeitschriftsteller immer wieder beschäftigt. Ist der Mensch ein Wesen aus lüsternem Fleisch und Blut mit einer Prise von über den Dingen stehendem oder gar schwebendem Geist? Die hellsten Köpfe haben die Frage, was und wer der Mensch denn sei, zu beantworten versucht, doch sie stellt sich für jeden Menschen immer wieder aufs neue: Was ist der Mensch?
Ich habe gewiss keine Schwierigkeiten, von herausragenden Menschen, denen ich in meinem Leben persönlich begegnet bin oder von denen ich in Büchern gelesen habe, zu sagen, ja, dieser oder jener ist ein Mensch, und damit meine ich, dieser Mensch hat sein Menschsein voll entfaltet. Aber ich wäre nicht in der Lage, eine einsichtige Begründung dafür zu liefern. Ich ließe meine Antwort zwar stehen, aber sie trüge den Makel einer reinen und unbegründeten Behauptung an sich.
Viele meiner Schriftstellerkollegen haben sich auf ihre Weise mit dieser ersten aller philosophischen Fragen befasst und wunderschöne Geschichten dazu erfunden und geschrieben. Wie sehr beneide ich Charles Dickens um seinen Ebenezer Scrooge, den in einer Nacht die Geister der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Weihnacht vom verschlossenen Menschenhasser und Griesgram zu einem Menschen wandeln, der plötzlich Weihnachten feiern kann wie kein anderer! Und von diesem Ebenezer Scrooge sage ich: Das ist ein wahrer Mensch.
Ach, wie sehr wünsche ich mir, endlich selber einmal eine Geschichte dieser Art schreiben zu können. Aber ich kann – Oropax nochmal! – ich kann es nicht! Wenn mir doch Charles Dickens einmal die Geister meiner vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Romane und Geschichten schickte, so dass ich über Nacht… Aber was soll das! In Wirklichkeit ist es so: Jahre und Jahrzehnte sitze ich, falls es meine Zeit erlaubt, zwischen Hochstimmung und Verzweiflung schwankend, über weißem Papier, das ich mit Texten aller Art überschütte; aber eine schöne, runde, vielleicht auch etwas kitschige Geschichte über das, was der Mensch ist oder meinetwegen auch nicht ist, über das, was und wie der Mensch sein soll oder auch nicht, will und will mir nicht gelingen. Und überhaupt mag der Mensch sein, was er will: Wenn ich nur einmal, ein einziges Mal in meinem Leben eine Geschichte schaffte, die man heute und in hundert und aberhundert Jahren immer wieder gerne liest!
Superwichtelmann
Eines Tages ergab es sich, dass ich mit Lilu über diese Frage „Was ist der Mensch?“ zu sprechen kam. Lilu saß in seinem Garten, während ich meinen Computer traktierte oder vielmehr er mich. Lilu faulenzte auf der Hollywoodschaukel in seinem Garten, der sich mitsamt Prachtvilla in meinem Bücherregal unten links ausdehnte. Er tagträumte vor sich hin, gähnte und streckte sich gelegentlich, als wäre er aus Gummi.
Das Gespräch fing recht harmlos an. Aber wir redeten aneinander vorbei. Ich wollte mich eigentlich auf meine Arbeit konzentrieren, während Lilu dem süßen Nichtstun frönte. Deshalb hatten wir bald den schönsten Streit miteinander. Und als Lilu sich über meine literarischen Ambitionen lustig zu machen begann, stellte ich ihn mit der Frage, wer zu sein er sich denn einbilde, zur Rede.
Darauf blies er sich zu einer theatralischen Pose auf und sagte betont kühl: „Ich bin ein Mensch wie du, mein Herr. Nur ein bisschen weiter. Das bin ich.“
Ich war einigermaßen verblüfft. Ein Mensch wie ich? Was wäre er dann? Nur ein bisschen weiter? Wie weit war ich denn?
Plötzlich sagte er: „Weißt du, dass du mir manchmal richtig leid tust du mir?“
Diese Bemerkung traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Warum sollte ich ihm leid tun? Was fiel diesem Superwichtelmann überhaupt ein? Sitzt faul in seinem Garten, der eigentlich meiner ist und mir einen Teil des Bücherregals wegnimmt, gibt sich, müßig und eine Sonnenbrille vor Augen, einer angenehm lauen Luft hin, während es draußen vor dem Fenster eher düster ist – und plötzlich tue ich ihm leid.
„Halt du bloß deinen Rand!“ rief ich ihm zu. „Ich muss nachdenken.“
„Ist schon klar. Hab’ ich ja gar nicht anders erwartet von einem, der meint, dass Schreibseln was Besonderes ist.“
Das zu sagen war gemein von ihm. Denn mit dieser hingeworfenen Bemerkung hatte er mir eine Falle gestellt und mich in ein von mir nicht gewolltes Gespräch verwickelt. Ich musste doch mein Hobby verteidigen.
Aber ich tat mir selber leid. Hängt faul herum, während ich angestrengt arbeite! Es gibt bekanntlich nichts Schlimmeres in Gegenwart eines arbeitenden Menschen als einen Faulpelz, der es sogar genießt, einer zu sein. Geistige Arbeit ist da kaum mehr möglich. Mich jedenfalls hatte Lilu inzwischen noch mehr aus dem Konzept gebracht, als ich es ohnehin schon war.
Buchrücken für Buchrücken
Ich beschloss, wenn ich schon nicht schreiben konnte, wenigstens zu lesen. Meine Augen wanderten die Buchrücken um Buchrücken in meinem Regal entlang. So viele Bücher! Viele davon ungelesen, und viele werden nie gelesen werden. Aber ich liebe jedes einzelne, jede Seite, jedes Wort, jedes Satzzeichen – und jeden Druckfehler.
Ich griff wahllos zu, las Sätze von Ivan Gontscharow („In der Gorochowajastraße, in einem der großen Häuser, dessen Bevölkerung für eine ganze Kreisstadt ausgereicht hätte, lag des Morgens Ilja Iljitsch Oblomow in seiner Wohnung auf dem Sofa.“), Dorothy Sayers („‘Ach übrigens’, sagte Mr. Hankin zu Miss Rossiter, die gerade aufstehen und gehen wollte, ‘wir bekommen heute einen neuen Texter.’“), Joseph Heller, („Es war Liebe auf den ersten Blick. Als Yossarian den Kaplan zum ersten Mal sah, verliebte er sich auf der Stelle in ihn.“), Joyce Carol Oates („Die Stunde ist vorgerückt, die Stunde hallt wider vom Gewirr fremder Stimmen und ihrem Gelächter, und mit Albert St. Dennis geht etwas vor.“), Clive Staples Lewis („Mein lieber Wormwood, Ich habe zur Kenntnis genommen, dass Du Deinen Patienten in der Wahl seiner Lektüre beeinflusst und dafür sorgst, dass er sich sehr oft in der Gesellschaft seines materialistisch gesinnten Freundes aufhält.“), Bernhard von Clairvaux („Ihr wollt also von mir wissen, warum und wie Gott geliebt werden soll. Ich antworte: Der Grund, Gott zu lieben, ist Gott. Das Maß ist, ohne Maß zu lieben.“), Alfred Döblin („Man brachte ihn zurück. Es fiel ihm nicht zu, den asiatischen Kontinent zu betreten.“), und Charles Dickens („Der Kessel fing an. Kommt mir nicht damit, was Mrs. Peerybingle sagt. Ich weiß es besser. Mrs. Peerybingle mag bis ans Ende der Zeiten behaupten, sie wüsste nicht, wer damit begonnen hätte – ich sage euch, es war der Kessel. Und ich meine, ich sollte es wissen. Der Kessel fing an, volle fünf Minuten – laut Zeugnis der kleinen, wachsgesichtigen Holländeruhr im Winkel -, bevor das Heimchen auch nur ein Zirpen von sich gab.“). Bei Charles Dickens schließlich blieb ich hängen. Ich nahm das im Manesse-Verlag erschienene Buch mit Lesebändchen, machte es mir auf meinem Schaukelstuhl gemütlich und begann die Geschichte von Ebenezer Scrooge zu lesen: „Zunächst einmal: Marley war tot. Darüber besteht kein Zweifel. Sein Begräbnisschein wurde vom Pfarrer, vom Küster, vom Leichenbestatter und vom Hauptleidtragenden unterschrieben. Scrooge unterschrieb ihn. Und Scrooges Name war auf der Börse gut für jeden Abschluss, den er zu tätigen gedachte. Der alte Marley war so tot wie ein Türnagel.“
Da hörte ich diese Stimme von unten links erneut lästern: „Du hast das Lesen offenbar nötig.“
„Lass mich in Ruhe. Ich lese gerne.“
„Aber nur, weil es bei euresgleichen so üblich ist, und weil du selber schreibst, was andere lesen sollen, und denen schwatzt du auf, dass Lesen bildet. Aber das bildet ihr euch bloß ein, ihr Menschen von der besonderen Art.“
„Hast du denn schon einmal in deinem Leben einen vollständigen Satz gelesen, du kleiner Klugscheißer?“
„Ach weißt du, ich mache, was ich will. Wenn ich lesen will, lese ich, wenn nicht, dann nicht. Und überhaupt, wenn ich mir ein Buch auch nur ansehe, dann weiß ich, was drinsteht. Gib mir doch mal eins!“
Ich hielt ihm das kleine Manesse-Buch mit Meistererzählungen von Charles Dickens hin, das im Vergleich zu Lilus Größe riesenhafte Ausmaße hatte.
„Ach ja“, sagte er, „das ist die Geschichte mit Ebenezer Scrooge. Soll ich dir erzählen, wie die geht, soll ich das? Dann bräuchtest du sie nicht mehr zu lesen.“
„Nein, ich lese sie lieber selber. Du heißt Lilu und nicht Charles Dickens.“
„Ich erzähle dir die Geschichte, dann kannst du sie ja immer noch lesen, wenn du unbedingt meinst.“
Teil 2 folgt am nächsten Mittwoch.
Ein Gedanke zu „Lilu – Nur ein bisschen weiter/Teil 1“