Einmal vor, einmal zurück
Ich wollte mich gerade in meine Gedanken über die einzigartige menschliche Würde vertiefen und ihnen eine Weile mit Muße nachhängen, als mein Blick die Uhr streifte, die über der Tür hing, welche, schwungvoll verziert, zum Vorraum hinausführte. Da schrak ich zusammen:
„Mein Gott!“ dachte ich. „Meine Bücher!“ Wieso kam mir, als ich damals, und auch nur zufällig, diese Uhr sah, jenes Schreckgespenst in den Sinn? Ich finde bis heute keine Erklärung dafür. Wieso dachte ich plötzlich wieder an diesen Großen Bernhardini? Wieso hatte ich plötzlich Angst um meine Bücher daheim? Vielleicht lag es daran, dass das Arbeitszimmer des Großen Bernhardini eine viel zu große Ähnlichkeit mit dem meinen hatte, verschieden eigentlich nur in den gewaltigen Ausmaßen.
Um es kurz zu machen: Wie der Blitz jagte mich auf einmal die Angst, alle Bücher zu Hause wären leer, die Druckerschwärze in ihnen wäre erloschen. Für immer.
Sofort stürzte ich aus dem wohligen Nass, das mir nunmehr hinderlich war. Ich duschte in sekundenschnelle, und ebenso schnell war ich angekleidet. Glücklicherweise war es nicht nötig, die Haare zu fönen. In dieser Sommerhitze kann man sich nicht erkälten.
Ich eilte die Zweibrückenstraße hinunter und stand bald keuchend am Bahnsteig der S-Bahn-Haltestelle am Isartor. Erst jetzt erkannte ich, dass ich mir die Eile hätte sparen können. Die nächste S-Bahn kam erst in 38 Minuten. Auch das noch! An sich fällt es mir leicht, zu warten. Aber an diesem Tag wurde ich ganz kribbelig. Nur um etwas zu tun, stieg ich in die nächste S-Bahn und fuhr zum Ostbahnhof, wo ich mir im unterirdischen IC-Pub ein Pils genehmigte. Gegenüber wurden Zeitschriften, Zeitungen und Bücher verkauft. Wenn die wüssten, welche Sorgen mich plagten!
Jedes Buch ist ein Geheimnis für mich; selbst wenn ich eines gelesen habe, bleibt es für mich ein Geheimnis, ein wundervolles Rätsel der Menschheit, das die greifbare Form eines Buches angenommen hat. Hinter einem mehr oder weniger schönen, mehr oder weniger luxuriös aufgemachten Umschlag verschanzt sich dieses Rätsel in Regalen von Bibliotheken, in Kisten auf Speichern, und dämmert durch die Geschichte der Zeit, immer bereit, stets aufs neue zu erwachen und entdeckt zu werden, jedoch nie seine geheimnisvolle Natur verratend.
Ich habe großen Respekt vor Büchern. Sie in die Hand zu nehmen, bedeutet für mich oft eine Überwindung. Manches Mal lege ich ein Buch, das ich zu lesen beginne, und das mir auf irgendeine Weise außergewöhnlich, vielleicht genial erscheint, nach wenigen Seiten mit einem leichten Zittern wieder weg, ehe ich mich nach einiger Zeit wieder an es heranwage. Bücher leben, obwohl sie stumm sind, obwohl sie blind sind, obwohl sie nicht atmen. Sie sind anders als alles, was sonst der Mensch geschaffen hat. Ein Rad ist ein Gegenstand, dem eine bestimmte Aufgabe zukommt, eben die, Rad zu sein.
Ein Buch ist jedoch weit mehr als nur die Summe seiner Seiten, als das Gewicht seines Papiers, als die verarbeitete Druckerschwärze. Ein Buch kann ich lieben, nicht nur benutzen. Ein Buch funktioniert nicht wie eine Maschine funktioniert. Ein Buch lebt. Deshalb habe ich Respekt vor ihm, deshalb ziehe ich oft voll banger Erwartung eines aus dem Regal meines Arbeitszimmers, um es zu lesen und in sein Intimstes einzutauchen. Deshalb nehme ich noch öfter ein Buch zur Hand, nur um es anzusehen, die Seiten über meinen Daumen streichen zu lassen und um es schließlich ungelesen wieder zurückzustellen.
„Was, bei allen Nadelstreifen dieser Welt, was habe ich jetzt in diesem Pub zu suchen?“ dachte ich in meiner Erregung. „Bis ein Pils im Glas ist, dauert es ja eine Ewigkeit.“
Ich hatte aber keine Zeit zu verlieren. Die nackte Angst trieb mich um. Doch der S-Bahn-Fahrplan kennt keine Angst, auch die meine nicht. Er kennt nur Abfahrtszeiten, und ich kenne außerdem noch Verspätungen. Diese Erkenntnis stachelte meine Angst nur noch an.
Ich sah zu, wie der Zapfhahn sich bis auf dessen Boden in das Pilsglas senkte. Mit einem fauchenden und zugleich saugenden Geräusch gab ein Fass unter dem Tresen einen Teil seines Inhalts frei. Nur zu bald war das Glas voller Schaum, der sich nun erst nach und nach absetzen musste. Wie lange das dauerte! Panik ergriff mich.
„Entschuldigung!“ sagte ich. „Ich bin gleich wieder da! Ich muss nur rasch rüber zum Kiosk.“ Hastig riss ich dort Zeitschriften und Magazine aus dem Fächern und blätterte sie durch.
„Alles da!“ seufzte ich immer wieder erleichtert, „alles da!“
„Das will ich hoffen“, raunte die Verkäuferin, die offenbar nicht wusste, wie sie mein Verhalten einordnen sollte, und die auch nicht wusste, was auf dem Spiel stand. Schließlich versammelten sich an diesem Fleckchen Erde, geschätzt, einige Tausende und Abertausende, vielleicht sogar Millionen von Buchstaben. Leere Zeitungen aber kauft niemand mehr, auch oder gerade ein abgerissenes Sexblatt nicht.
Ich ging wieder zurück in den Pub und setzte mich auf einen Barhocker am Tresen. Das Pils stand schon bereit, das ich mit verhaltenem Genuss in zwei oder drei Zügen austrank. Der bitter milde Geschmack des Bieres flößte mir eine gewisse Gelassenheit ein, so dass ich, nachdem ich gezahlt hatte, mit einiger Erleichterung die Rolltreppe hochfuhr, um auf die S-Bahn zu warten.
Die S-Bahn fuhr ein, um mich aus München hinauszubringen. Die ersten drei Wagen des Zuges waren, lediglich von weißen Wellenlinien durchsetzt, blutrot gefärbt, weil sie für Coca Cola Reklame machen mussten. Es sah aus, als sei die S-Bahn, wie ein Stück Fleisch in Ei und Paniermehl, in Coca Cola-Reklame gewälzt worden. Ich sah es nicht gleichgültig wie sonst. Wer konnte zu diesem Zeitpunkt schon wissen, wie lange Reklame noch möglich war? Denn wenn, wie ich unbewusst, aber begründet fürchtete, alle Buchstaben dieser Welt aus dieser Welt verschwänden: Bedeutete das nicht auch das Aus für die Reklame? Nie mehr würde ich die großflächigen Werbeplakate sehen, an denen ich bis jetzt täglich vorbeigefahren war und über die ich mich manchmal sogar gefreut hatte.
Ein Gefühl von Nostalgie überkam mich, als ich in den Zug einstieg. Was würde aus den Zeitungen werden? Sogar den Schundromanen und Boulevardzeitungen weinte ich in meinem Inneren bereits eine Träne nach, obwohl sie noch immer ihre Botschaften in die Welt hinausschrien. Es gab sie nach wie vor: Ich nahm in der S-Bahn neben einem Mann Platz, der seine Bild-Zeitung wie eine Trophäe in die Höhe hielt, um zu lesen und zu blättern. Welcher Kopf dahinter steckte, konnte ich nicht erkennen, ich nahm nur einige Schlagzeilen wahr, die von der Verderbtheit der Menschen kündeten und dazu beitrugen, dass die Auflage dieser Zeitung auch heute wieder wie jeden Tag eine hohe Zahl erreichte. Es war ein einziges Rascheln, das die Ereignisse des Tages und dessen Lektüre in der Bildzeitung umrahmte. Er blätterte einmal vor, einmal zurück. Las der Mann denn überhaupt? Mochte er tun, was er wollte, mich beschäftigte die Frage, ob dieser Anblick mir heute zum letzten Mal vergönnt sein würde. Was aber bedeutete eine S-Bahn noch, wenn in ihr kein Fahrgast mehr die Zeitung läse, die man aus dem verborgenen Hinterhalt mitlesen konnte? Ich sah eine Unzahl von Kulturen der Menschheit verschwinden. Ob die Mayas und Inkas und Azteken oder wer auch immer auf ähnliche Weise zum vergangenen Mosaikstein der menschlichen Geschichte geworden sind?
Ich versuchte mir auszumalen, wie ein Science-Fiction-Roman aussehen müsste, wenn die Menschheit plötzlich alle Buchstaben verlöre. Doch weit kam ich nicht mit meinen Gedankenspielereien: Die S-Bahn kam an meinem Zielbahnhof an und ich stieg aus.
Ich rannte eilends nach Hause, beflügelt von der Sorge um unsere Bücher und um die menschliche Kultur schlechthin. Ich zog verständnislose Blicke auf mich. Was ahnten die Leute schon von dem, was sich, ausgehend von meinem Arbeitszimmer, bald in der großen weiten Welt abspielen würde: eine Katastrophe biblischen Ausmaßes, der alles in Bücher gebundene Wissen zum Opfer fiele. Der Schaden, den ein Computervirus verursachen konnte, wäre ein harmloser Schabernak gegen den Schaden, den der Große Bernhardini vom Stamme der Barnherdinis mit unseren Büchern anzurichten in der Lage war.
Ich war, und nur ungern gebe ich das hier zu, leicht verrückt im Kopf. Aber davon hatte wiederum ich damals keine Ahnung. Schließlich passiert im Kopf eines Menschen einfach etwas, wenn einem ein gewisser Lilu auf den Tasten einer Schreibmaschine etwas vortanzt und auch sonst tut, was er will.
Lachen aus schadenfroher Seele
Toni hatte gar keine Gelegenheit, mich mit einem Küsschen zu begrüßen, ich sagte zu ihr und zu den Kindern nur insgesamt „Hallo!“. Die Schuhe warf ich im Laufen hinter mich, die Jacke behielt ich an. So rannte ich die Treppen hoch ins Arbeitszimmer. „Hoffentlich! Hoffentlich!“ stieß ich unentwegt hervor, „hoffentlich!“
Ich riss die Tür zum Arbeitszimmer auf und griff wahllos ins Bücherregal. Ein Buch ums andere zog ich heraus und ließ die Seiten fliegen. „Alles da!“ rief ich bei jedem Buch aus. „Gott sei Dank, alles da!“ Am liebsten hätte ich jedes Buch einzeln durchgesehen. Aber nach vielleicht fünfzig Büchern war ich überzeugt, dass alles da war. Alles war wie immer. Der Große Bernhardini hatte keine Gewalt über die Bücher dieser Welt.
„Was ist mit dir?“ fragte Toni, die nachgekommen war. „Hast du das Dampfbad nicht vertragen? Warum sollte nicht mehr alles da sein?“
„Ach, weißt du, ich war im Liluland, und ich hatte plötzlich Angst, dass der Große Bernhardini, der den lieben langen Tag nichts anderes tut als schreiben, wobei die Buchstaben sich sofort in Wirklichkeit auflösen, dass dieser Bernhardini vielleicht auch unsere Bücher auflösen könnte. Ach, bin ich glücklich! Verstehst du?“
„Nein. Aber wenn du glücklich bist, freue ich mich.“
Da vernahm ich ein Lachen, wie es aus der hämischen Tiefe einer schadenfrohen Seele kommt. Es war Lilu, der in seinem Garten am Rande des Regals saß und die Beine vom Brett baumeln ließ.
„Na, wie ich höre, hast du sie noch alle hast du.“
„Klar, warum auch nicht?“
„Sag’ mal, mit wem redest du?“ fragte Toni, die sich an den Blumen am Fenster zu schaffen machte. Aber sie ahnte schon, dass es nur Lilu sein konnte. „Wahrscheinlich ist es wieder dieser Lilu.“
„Du hast recht“, sagte ich zu ihr.
„Du kannst vielleicht rennen“, sagte Lilu. „Also da frage ich mich doch, ob ich mit einem meiner Tricks je so schnell so weit gekommen wäre.“ Und wieder lachte er. Er fand sich wohl sehr witzig und ironisch. Jedenfalls machte er sich wieder einmal auf meine Kosten lustig.
„Ich setze Wasser auf für Tee“, sagte Toni und ging in die Küche.
„Ich komme gleich“, sagte ich.
„Weißt du, dass ich dir noch ein Gedichtsel schuldig bin?“ fragte Lilu.
„Was gehen mich deine Gedichtsel an. Glaubst du, ich lasse mich von dir auslachen, wenn ich Angst um meine Bücher habe, und höre mir dann deinen Blödsinn an? Du weißt überhaupt nicht, was in Büchern alles steht.“
„Na und? Was wäre schon verloren, wenn du keine Bücher mehr hättest: schwarze Farbe, nichts als schwarze Farbe, die ihr Menschen aus euren Hirnen in Bücher presst. Und wenn die dann in Regalen stehen, glaubt ihr, sie seien für die Ewigkeit gemacht. Blödsinn!“
Darauf konnte ich nichts erwidern. Er hatte ja wieder einmal irgendwie recht, aber ich gab ihm trotzdem zu erkennen, dass ich leicht gekränkt war. Immerhin bin ich meinen Büchern zuliebe gerade eben gerannt als ginge es um mein Leben. Und er sagt „Blödsinn!“ dazu.
„Also ich“, sagte Lilu, „ich brauche keine Bücher. Wenn ich ein Gedichtsel mache, dann mache ich es und sage ich es, und dann ist es weg. Denn was gesagt ist, ist gesagt, und dann ist es weg. Meine Kunst braucht keine Bücher so wie deine. Und ich würde ja gar keine Bücher schreiben wollen würde ich. Dazu ist mir meine Kunst zu schade. Weißt du, was ich meine?“
„Also“, sagte ich, „die Menschheit wird es dir zu danken wissen, dass ich der einzige bin, der deine Gedichtsel zu hören bekommt und dass du keine Bücher schreiben willst.“
Lilu verstand die Ironie, die in meinen Worten steckte, nicht. Ich aber sagte weiter: „Es ist wirklich schön, dich zum Freund zu haben.“ Das zauberte sofort ein zufriedenes Lächeln auf sein Gesicht.
Nächsten Mittwoch folgt die Lilugeschichte „Thimo statt Timo“.
Ein Gedanke zu „Lilu – Der Druck lässt nach/Teil 3“