Langweilig
Wieder einmal hielt ich mich im Arbeitszimmer auf, inmitten all der Bücher, die hier die Wände bedecken, um an einem Zeitschriftenartikel über die Zeitnot des modernen Menschen zu feilen. Der Text war im wesentlichen fertig, doch galt es noch an einigen Stellen grammatikalische und stilistische Korrekturen vorzunehmen – wie immer in dem Bewusstsein, dass ich, ist der Artikel erst einmal gedruckt, schamrot anlaufen werde angesichts einer wahren Flut von Fehlern und Versäumnissen, die ich dann zu entdecken glaube.
Die nötige Konzentration wollte sich nicht einstellen, so sehr ich mich auch darum bemühte. Das lag nicht nur an den Kindern, die ich – auch im Arbeitszimmer – gerne um mich habe; die um den Schreibtisch herumschleichen, unter ihm hindurchkriechen oder sich aus dem vorletzten Regalfach links unten (im letzten ist ja Lilu zu Hause) bedienen, wo die Micky Maus-Bücher stehen.
Ich war unruhig. Ihr kennt das Gefühl sicherlich: Da muss man stillsitzen und sollte sich konzentrieren, hat aber die größte Mühe damit, den Hintern ruhig auf dem Stuhl zu halten. Vielleicht war der Kaffee, den ich zum Frühstück getrunken hatte, einfach zu stark. Andererseits: Kann ein koffeinfreier Kaffee stark, geschweige denn zu stark sein und das Blut in hämmernde Unruhe versetzen?
Ach egal! Ich saß jedenfalls über meinem Artikel und brütete und überlegte, ob ich hier nicht ein Wörtchen streichen, da nicht eines hinzufügen sollte, ob ein Imperfekt, grammatikalisch zwar richtig, nicht doch den Lesefluss störte und statt dessen das plaudernde Perfekt vorzuziehen wäre – und was sonst noch für Fragen mich umtrieben. Ich verwarf sämtliche nur denkbaren Lösungen.
Schließlich beschäftigte mich schon seit Tagen ein ganz anderes Problem, das sich unter meine grammatikalische und stilistische Arbeit mischte und meine Kreise störte, anfangs nur hauchzart, aber immer fühlbarer werdend, so dass wohl auch ein koffeinfreier Kaffee verheerende Wirkungen haben konnte: Wer ist dieser Lilu? Wie lebt er? Wo kommt er her? Welche Welt ist die seine? Wie lebt man in Liluland?
Ich blickte sinnend aus dem Fenster, als könnte ich die Antworten auf alle diese Fragen von den vorbeiziehenden Wolken ablesen. Nun war meine Phantasie nicht mehr zu bremsen. Ich versank in ein wunderschönes Land, in dem jeder Mensch glücklich war, in dem nur die Liebe regierte und Frieden herrschte. Ich war in Liluland…
Doch! Sie war doch zu bremsen, meine Phantasie. Die Kinder holten mich zurück in die raue Wirklichkeit dieser Welt: Sie hatten wieder einmal Anlass zum Streit. Es ging um das hübsche Kaleidoskop, das auf meinem Schreibtisch steht. Eines der beiden Kinder – ob es Bea oder Thimo war, weiß ich nicht mehr und ist auch unerheblich – ließ sich gerade von den Farben und Mustern des Kaleidoskops faszinieren und tat dies besonders interessiert und ausgiebig, da das andere gleichfalls und vor allem gleichzeitig fasziniert werden wollte. Natürlich kam es bald zu dem üblichen Gezerre und Gezänke. Ich habe mein Kaleidoskop sehr gerne. Deshalb wäre ich sehr traurig und verärgert gewesen, wenn es wegen eines Streits der Kinder kaputt gegangen wäre. Sie selber wären sicher mindestens genauso traurig gewesen. Aber Nachgeben ist eine sehr schwere Kunst.
„Ihr könntet doch abwechseln“, schlug ich vor. „In diesem Kaleidoskop gibt es so viele schöne Sachen zu sehen, dass für jeden genug da ist.“
„Papa, mir ist dann aber langweilig.“
„Und mir ist jetzt langweilig.“
Aha! Darum ging es also.
„Da kann ich nichts dafür,“ sagte ich. „Leider ist das Wetter so blöd. Einmal scheint die Sonne, dann ist es wieder so duster und kalt.“
„Ja, und dann können die Pflanzen nicht blühen, weil keine Sonne da ist.“
„Die Pflanzen brauchen Sonne, aber auch Regen.“
„Aber wir Kinder mögen sehr gerne Sonne, weil wir dann draußen spielen können.“
„Papa, ich flüster’ dir was ins Ohr.“
Ich beugte mich zu Bea hinunter, und sie flüsterte:
„Papa, du, wann gehen wir wieder einmal spazieren?!“
„Ja, ich weiß nicht. Möchtet ihr denn? Kann ich mir gar nicht vorstellen.“
„Dooooch!“
„Ja, was kann man da machen?“
„Du, Papa, du, da ziehen wir uns was an und da nehmen wir Regenschirme mit…“
„Wenn das so ist“, sagte ich, „dann gehen wir halt.“
„Hurra!“ Und los brach ein Jubel, der das ganze Haus erfüllte. Beide trampelten sofort die Treppe hinunter.
„Mama! Mama! Wir gehen spazieren! Komm!“
Ich muss zugeben, dass mir der Gedanke mit dem Spazierengehen sehr gelegen kam. Mir war nämlich auch langweilig. Es gibt nichts Langweiligeres als die vergebliche Bemühung um Konzentration am Schreibtisch. Man kann sogar einschlafen dabei.
Toni war leicht sauer, als sie von unserem Vorhaben erfuhr.
„Wieso bist du sauer?“ fragte ich. „Komm doch einfach mit! Machen wir einen Familienspaziergang!“
„Ich kann nicht. Ich habe mir gerade die Haare gewaschen.“
„Dann fön sie doch.“
„Nein, ich gehe trotzdem nicht mit, weil ich dann bügeln muss.“
„Du denkst auch immer an Arbeit, aber mir machst du Vorwürfe. Wenn wir wieder zurück sind, koch ich was fürs Abendessen.“
Wir drei schlugen den Weg in Richtung Wald ein. Im Wald hat man immer das wohltuende Gefühl echter Muße. Ich dachte plötzlich wieder an diesen Mann, der vor zwei Wochen auf dem Bahnsteig an der S-Bahn lag. Es war eiskalt, aber er war nur notdürftig zugedeckt. Bis auf den warmen Anorak war er sommerlich gekleidet. Alles an ihm starrte vor Dreck. Er zitterte.
„Mir ist kalt“, näselte er.
„Sie können hier nicht liegen bleiben“, sagte ich.
„Ich weiß nicht, wo ich hin soll.“
Und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Der könnte am helllichten Tag erfrieren, so kalt war es. Vielleicht lag er schon die halbe Nacht da – nach einer ausgiebigen Sauferei unter Gleichen. Man sah auf dem Teerboden die Spuren eines Lagerfeuers, das wohl für die äußere Wärme zu sorgen hatte. Daneben lag eine leere Schnapsflasche bei seinen Habseligkeiten. Ich versuchte ihn besser zuzudecken und ihm einen Schuh anzuziehen, der ihm heruntergerutscht war. Beides gelang mir eher schlecht als recht. Ich hätte ihm auf die Bank, neben der er lag, helfen können. Aber er wäre sicher sofort auf den Boden gekullert.
Als die S-Bahn eingefahren war, sagte ich dem Zugführer Bescheid. Der jedoch hatte nur seine Verspätung im Sinn, die er aufholen musste. Er wollte mir gar nicht zuhören. Dennoch bedeutete er mir, dass er über Funk Hilfe herbeirufen würde. Ich fühlte mich erleichtert und hilflos zugleich. Da nennt man sich Christ und ist als solcher der Nächstenliebe verpflichtet, weiß in solchen Situationen aber nicht, was zu tun ist. Ob es in Liluland auch solche Probleme gab? Und wenn, dann hätte Lilu sicher sofort gewusst, was zu tun gewesen wäre. Dabei heißt es, der Glaube könne Berge versetzen. Vielleicht war dem Mann gar nicht anders zu helfen als mit Schnaps.
Wir hatten den Wald inzwischen hinter uns gelassen.
„Papa, das mit dem Schloss war Blödsinn“, sagte Thimo
„Mit was für einem Schloss?“ fragte ich.
„Auf deiner Hand.“
„Ach, jetzt verstehe ich. Warum soll das Blödsinn gewesen sein?“
„Ja, aber sowas gibt’s doch gar nicht.“
„Doch! Wenn ich es dabei hätte, könnte ich es dir noch einmal zeigen.“
„Aber so ein kleines Schloss gibt es gar nicht, weil ein Schloss viel viel viel größer ist und du kannst das gar nicht allein tragen.“
„Ihr könnt mir glauben, ich kenne ein Land, da können die Menschen alles, und da ist nie jemand traurig.“
Und so erzählte ich ihnen von Liluland, so wie ich es mir vorstellte. Denn ich kannte es ja selbst nicht. Klein müsste man sein, so richtig klein. Lilu hat schon recht, wenn er sagt, ich hätte nicht so wachsen dürfen. Dann hätte ich mir Liluland längst schon selbst ansehen können.
Teil 2 folgt nächsten Mittwoch.
Ein Gedanke zu „Lilu – Liluland/Teil 1“