Lilu – Aufstehen und eine Reise tun/Teil 2

Stille

Rasch hatte ich mein Gemüt wieder auf diesen schönen gerade erst anbrechenden Morgen konzentriert, und ich fühlte es wie eine gute Verheißung, mit der S-Bahn dem aufkeimenden Tag entgegenzufahren, und auch in Lilus Gesicht sah ich Glück. Aber was mochte das schon bedeuten bei einem Wesen, das nur machte, was es wollte? Was er wohl wollte, wenn er so dasaß und Glück ausstrahlte? Wie auch im­mer, ich war entschlossen, mich meinem Glücks­gefühl hinzugeben, in tiefstem Frieden mit Gott und der Welt. Doch wie jedermann weiß, sind derlei Empfindungen nur eine Frage der Zeit. Ihr Ende kommt, kommt meist jäh und unerwartet.

Jetzt müsste man ein Gedicht schreiben können, dachte ich und mir kam Rilke in den Sinn, der in seinem Stundenbuch schrieb:

„Du, Nachbar Gott, wenn ich dich manchesmal

in langer Nacht mit hartem Klopfen störe, –

so ists, weil ich dich selten atmen höre

und weiß: Du bist allein im Saal.“

Diese Stille eines frühen Morgens ist schon wie ein kleines Wun­der, wenn sich auch leise der Lärmteppich des Tages bemerkbar macht, der sogar die Nacht nie völlig zur Ruhe kommen lässt. Die übergroßen Werbeplakate entlang der S-Bahn-Strecke lärmen sowieso auf ihre subtile Weise, gleichgültig ob es Tag ist oder Nacht.

In der Stadt endet der Tag sehr spät, und er beginnt sehr früh. Wie viele Menschen zu dieser Stunde schon unterwegs sind! In gleichförmiger Eile und mit gleichgültigen Gesichtern bewegen sie sich in die neonbeleuchtete Welt des Untergrunds hinein, in der nie Tag ist oder Nacht, auf ihre Pflichten zu. Auch meine S-Bahn bohrte sich nach dem Halt am Ostbahnhof in den Untergrund hinein.

Als die S-Bahn an der Hackerbrücke endlich die schwarze Welt un­ter Tage wieder hinter sich ließ, hatte der Alltag München einmal mehr in seine Gewalt gebracht.

Hackerbrücke

Langsam und gemächlich fuhr die S-Bahn in die Haltestelle Hacker­brücke ein. Hacker­brücke? Wieso eigentlich Hackerbrücke? An dieser tausendmal vermaledeiten Hackerbrücke hatte ich doch gar nichts verloren. Verd… Nein! Schei… Auch nein! Mist! Meinetwegen! Was musste ich mich auch in lyrische Betrachtungen, den erwachenden Tag in Mün­chen be­treffend, ergehen! Da ist doch überhaupt nichts ly­risch. Da gibt es Stress und Rempeleien. In München, in der Reise­saison zumal – aber wann ist die, global besehen, nicht? -, kannst du keine drei Schritte durch die Fußgängerzone gehen, ohne dass du mit je­mandem zusammen­stößt, ausweichen und/oder überholen, du dich vor ordnungswidrig fahrenden oder parken­den Fahrrädern in Si­cherheit bringen oder du dich bei irgendeinem wildfremden Menschen entschuldigen musst, weil… weil… weil… ach, in der münchner Fußgängerzone ist dir im­mer einer im Weg. Von wegen Lyrik!

„Lilu!“ rief ich. „Wir müssen aussteigen und wieder zurück. Wir sind eine Station zu weit gefahren.“ Er war weg.

Lilu war mir ab sofort – ich gebe das hiermit zu meiner Schande zu, und wenn mich die halbe Menschheit dafür was weiß ich möchte – er war mir egal. Ich hatte andere Sorgen. Gut, er war irgendwie mein Freund. Aber er war trotzdem noch nicht so fest in mein Be­wusstsein vorgedrungen, dass er für jede Zuckung meines Leibes, für jede Wallung meines Blutes und für jede Regung meiner Seele be­deutsam und wichtig gewesen wäre. Einmal war er da und dann war er weg und dann war er wieder da. Und jetzt war er eben wieder einmal weg. Den möchte ich sehen, der sich gerne so narren lässt. Ich musste zusehen, dass ich diesen Termin in Mannheim einhielt und dazu musste ich – Mist über Mist! – erst einmal bis spätes­tens 7.07 Uhr im IC 818 am Hauptbahnhof in München sitzen. Da kann es hun­dertmal Lilu hin, Lilu her heißen.

Zum Glück war ich vom Hauptbahnhof nicht weit entfernt, aber sehr wohl von der Chance, den fraglichen Zug zu er­reichen.

Endlich hielt die S-Bahn an der Hackerbrücke. Ich riss die Tür auf und hastete schnur­stracks – aber leider war die S-Bahn am gegenüberlie­genden Bahnsteig für die Gegenrichtung noch nicht ein­gefahren. So wartete ich und wartete. Wie so oft in meinem Leben, wartete ich auf etwas, das sicher kommen würde. Aber wann? Glück­licherweise kam die S-Bahn aber zeitig genug, so dass ich pünktlich und nassgeschwitzt nicht nur den Bahnhof erreichte, son­dern auch noch vor dem richtigen Gleis stand – und ich sah Gleis und nichts als Gleis. Es war Dienstag, genau fünf Minuten nach Sieben. Ver­dammte Scheiße – jetzt muss es einfach raus! -, wo war dieser hoch­notpeinliche, mich zu dieser frühen Stunde zum Stress verlei­tende IC 818, Abfahrt 7.07 Uhr?

„Eine Gleisänderung!“ schoss es mir durch den Kopf, und ich rannte, beflügelt von einer verzweifelten Hoff­nung, zur Anzeigen­tafel und suchte darauf nach meinem Zug, suchte und suchte wieder, von oben nach unten, von unten nach oben. Und wurde nicht fündig, auf den Zeilen nicht, zwischen den Zeilen nicht. Gleichmütig ver­änderte die Anzeigentafel wieder ein­mal ihr Gesicht, aus dem zwei­ten Zug wurde der erste, und irgend­wann wird der jetzt letzte an die vorderste Position gerückt sein. Doch von meinem Zug keine Spur! Ich lief zu­rück zum Gleis, denn schließlich können sich An­zeigentafeln auch mal irren – jedenfalls theore­tisch. Was hier nicht zu lesen war, konnte doch durchaus abfahrbe­reit auf dem Gleis stehen. Der Zug könnte ja mit einer geringfügi­gen Verspätung – eine längere war ich in mei­nen Gedanken nicht be­reit einzuräumen – von München abfahren. Aber es war kein Zug da. Und es kam auch keiner. Es war, wie gesagt, Dienstag.

In mir regte sich ein furchtbarer Verdacht. Benommen wankte ich zu einem dieser gelben Fahrpläne, die überall am Bahnhof herumhän­gen, und erfuhr, dass es für mich ganz entschie­den besser gewesen wäre, wenn statt Dienstag Montag gewesen wäre. Dann wäre ich zwar einen Tag zu früh, aber wenigstens pünktlich zur Sit­zung in Mann­heim erschienen. Doch es war Dienstag und eben nicht Montag, und am Dienstag fuhr dieser Zug nicht. Er fuhr auch nicht am Mittwoch oder am Donnerstag. Der IC 818, Abfahrt 7.07 Uhr vom münchner Hauptbahnhof fuhr nur montags. Ich musste den nächsten Zug nehmen, den IC 614.

Ob ich in Mannheim eine Zugverspätung vorschützen konnte? Eine Verspätung von schät­zungsweise 40 Minuten? Und die natürlich unter der, wie ich fürchtete, unwahrscheinlichen Voraussetzung, dass der IC 614, Abfahrt 7.45 Uhr, nicht tatsächlich mit Verspätung in Mannheim ankommt, die dann dazuzurechnen wäre.

Wenn ich doch einen Platz reserviert hätte! Dann hätte ich recht­zeitig meinen Irrtum be­merkt oder er wäre gar nicht entstanden, und ich wäre in den IC 618, Abfahrt 6.45 Uhr, ge­stiegen. Ach Un­sinn! Den IC 618 hätte ich ja gar nicht erreichen können, weil ich ja für den zu spät aufgestanden wäre. Um Haares­breite hätte ich nur den IC 818 erreicht, weil ich für den zwar pünktlich aufgestanden, aber bei den Übungen wieder eingeschlafen bin und aus ly­rischen Grün­den die Haltestelle Hauptbahnhof verpasst habe. Andererseits hätte ich, voraus­gesetzt ich hätte reserviert, den IC 618 doch erreicht, weil ich dann natürlich früher aufge­standen wäre und mich bemüht hätte, bei der Morgengymnastik nicht einzuschlafen. Außer­dem wäre ich zu müde gewesen, um mich lyrischen Gedanken hinzugeben und deshalb die Haltestelle Hauptbahnhof zu verpassen. Wie verwirrend doch die Wirklichkeit ist, wenn sie an­ders hätte kommen können als sie ge­kommen ist!

Walfisch

Wo war eigentlich Lilu? Jetzt hatte ich wieder Zeit für ihn. War er an der Hackerbrücke der S-Bahn nicht rechtzeitig entwischt und fuhr nun mit ihr bis zur Endhaltestelle Nann­hofen? Ich bekam es mit der Angst zu tun. Lilu war ja, wenn man es genau betrachtet, kein richtiger Mensch. Andererseits: warum nicht? Nur weil er klein, sehr klein, sogar winzig klein war? Das ist doch kein Grund zu sagen, jemand sei kein Mensch. Kleine Menschen sind auch Men­schen. Oder weil er einmal auftauchte wie ein Walfisch aus dem antarktischen Meer, um Luft zu schnappen, und dann wieder ab­tauchte und nicht mehr zu sehen war? Si­cher ist das bei den Men­schen unüblich. Wenn sie auf der Welt sind, sind sie da, und sie sind schon vor der Geburt auf der Welt, nur dass man sie nicht se­hen kann. Aber sie sind da. Lilu war auch da, und war dann wieder nicht da. Wie dieser Zug. Aus den Augen, aus dem Sinn? Das gibt es bei uns Menschen ja auch.

Was soll’s! Das konnte mir doch egal sein, ob er ein Mensch war oder nicht. Was immer er war, ich machte mir Sorgen um ihn. Wie sollte er mit der S-Bahn zurechtkommen? Ich sah ihn schon un­ter den Rädern… ich malte mir das schlimmste… Tränen pressten sich aus meinen Augen und ich versank in ein Meer aus Traurigkeit und Sorge.

„Lieber Nachbar Gott, hilf!“ stieß ich leise hervor. „Mach’ was!“

Ach was! tröstete ich mich trotzig. So ein Lilu kann schon ganz gut selbst auf sich aufpas­sen. Das hat mit Kleinsein nichts zu tun. Ich ließ mich auf einer Bank am Bahnsteig nieder und wollte warten, bis der nächste Zug nach Mannheim bereitgestellt wurde.

Ob ich vierzig Minuten oder fünf Stunden zu spät käme, bedeutete mir nun nichts mehr. Ich hätte alle Terminkalender dieser Welt da­für gegeben, wenn Lilu wieder bei mir gewesen wäre. Nein, nicht alle. Ein paar mehr würde ich immer für meine Frau und für meine Kinder geben. Dieser Gedanke tröstete mich wirklich ein bisschen.

Ein Bahnhof, der etwas auf sich hält, hat Uhren, und zwar jede Menge. Das war zumin­dest immer mein Eindruck: Man braucht nur den Kopf ein bisschen zu bewegen, ganz gleich in welche Richtung, immer sieht man einer Uhr ins Auge. Wie oft bin ich schon durch die­sen Bahnhof geschlendert oder gegangen oder gerannt! Und wie oft habe ich auf eine dieser zahllosen Uhren geblickt! Aber jetzt? Wo war jetzt eine Uhr, da ich die genaue Zeit haben wollte? Ich blickte herum, doch meine Augen gewahrten nur Reklame im Überformat und einen Kiosk neben dem anderen mit vielen Zeitungen und Illustrier­ten. Ich hätte ja einfach nur auf meine Armbanduhr zu sehen brau­che, aber mittlerweile ging es mir ums Prinzip. Ich wusste natür­lich, dass es draußen über dem Haupteingang und in der Schalter­halle überlebens­große Uhren gab. Aber ich saß schließlich hier, um auf meinen Zug nach Mannheim zu warten, und wollte gerade hier an­hand einer Bahnhofsuhr in Erfahrung bringen, wie spät es genau war.

Also wartete ich, ohne die genaue Uhrzeit zu kennen, und, sonder­bar, das Warten tat mir gut. Es beruhigte mich. „Na gut“, dachte ich, „komme ich eben zu spät nach Mannheim. Pünktlichkeit ist ja sowieso nicht alles. Mein Charakter hat anderes zu bieten, was an­dere nicht haben, wenn ich auch grundsätzlich noch so großen Wert auf Pünktlichkeit lege. Schließlich ist sie ein Zeichen von Zuver­lässigkeit. Aber Pünktlichkeit hin und Zuverlässig­keit her, ich werde zu spät nach Mannheim kommen.“

Daran war nichts mehr zu än­dern, also war eine andere Tugend ge­fragt, die unter den Charak­terstärken auch einen guten Platz einnimmt, wie ich finde, die Ge­lassenheit nämlich.

Tststs!

Ich beobachtete das Treiben auf dem Bahnsteig. Taschen und Kof­fer, gefüllt mit den für eine Reise unentbehrlichen Utensilien und der nötigsten Wäsche, ließen sich von Herrchen oder Frauchen durch die Bahnhofshalle schleppen, ziehen oder auf Koffer-Kulis schie­ben. Es war wie das emsige Krabbeln in einem Schwarm Ungeziefer, in dem jeder seinen Platz und seine Funktion innehat und, getrie­ben vom Instinkt seine Pflicht erfüllt zu seinem und des Ganzen Wohle. Inzwischen wusste ich, wie spät es war. Ich hatte sie näm­lich doch gefunden, die Uhr, die mich freilich jetzt nicht mehr interes­sierte. An jedem Bahnsteig, am Kopf der Gleise, war so ein Gerät, das unser Leben so hektisch und stressig zu machen imstande ist.

„Warum gibt es hier keine große Uhr an zentraler Stelle?“ fragte ich mich eher rhetorisch, weil es mir, wie gesagt, nun eh egal war. „Scheiß Uhr!“ setzte ich noch halblaut dazu.

„Das höre ich aber gar nicht gern höre ich das. Tststs!“

„Aha! Da bist du also, du Floh!“

Ich wollte schon von Rücksichtslosigkeit und Angst und Sorge re­den, aber ich verkniff es mir gerade noch. Statt dessen sagte Lilu:

„Ordinär und frech sein ist wohl das einzige, was du kannst, und zu spät kommen.“

„Weißt du, dass ich mir Sor… äh, wo warst du eigentlich?“

„In deiner Hemdtasche, falls dich das überhaupt etwas angeht.“

„Da warst du nicht“, widersprach ich.

„Dann eben woanders. Jedenfalls war ich wo und du auch. Reg’ dich also bloß nicht auf. Du bist nämlich auch nicht besser als ich.“

„Aber größer.“

Ich war jetzt in der Stimmung zum Streiten.

„Jetzt kannst du mich wirklich bald mal kannst du mich“, und schon wieder ließ der die Hosen runter.

„Ist es bei euch Lulis so Sitte, dass man sich gegenseitig mit dem Hintern befuchtelt, wenn einem mal was nicht passt?“

„Bei uns gibt es gar keine Sitte, weil wir immer das tun, was wir wollen.“

„So kann man das natürlich auch sehen. Aber jetzt pack’ deine Sa­chen wieder zusammen. Der Zug wird bereitgestellt. Wir können ein­steigen.“

„Von wegen! Wenn hier einer kann, dann bin ich es. Aber du musst.“ Er verabreichte mir diese bittere Pille der Wahrheit mit einem höhnischen Grinsen. Aber er hatte ja recht, ob­wohl mir das über­haupt nicht passte.

„Red’ keinen Unsinn!“ sagte ich. „Komm’ jetzt endlich!“

„Wenn du glaubst, du kannst einem Lilu vom Stamme der Lulis was befehlen, hast du dich geschnitten hast du dich da, Herr Zuspät­kommer! Ich mach’, was ich will, und brauch’ auch keinen Kalender, in dem steht, was ich tun soll und um wieviel Uhr, weil ich gar keine Uhr habe, weil ich keine brauche und ich will auch keine. Mensch, bist du blöd!“

Das hatte er schön gesagt.

Teil 3 folgt nächsten Mittwoch.

Autor: Emsemsem

Ob gereimt oder nicht: Ich mach's und mag's kurz auf Emsemsem.net, wo es vorwiegend Aphorismen und Gedichte gibt. Ein paar Kleinigkeiten gibt es auch auf youtube.de/@emsemsem.

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