Nächstenliebe: Ein Versuch der Definition

Die Definition von Nächstenliebe ist schwer und lässt sich nicht einfach beantworten. Doch Thomas von Aquin bringt es auf den Punkt.

Nächstenliebe als Wort ist aus den beiden Wörten Nächster und Liebe zusammengesetzt. Es handelt sich dabei um einen Superlativ des Wortes „nahe“ (althochdeutsch: „nah“, germanisch: „næhwa“). Liebe stammt aus dem Mittelhochdeutschen „liep“ und bedeutet: „Gutes, Angenehmes, Wertes“. Auch das indogermanischen „leubh“ – gern, liebhaben, begehren – ist in der Wurzel vorhanden.

Definition

Eine sehr schöne Definition von Nächstenliebe habe ich auf Wertesysteme gefunden: „Die bedingungslose Bereitschaft, für Mitmenschen mitfühlend da zu sein.“ (Wertesysteme) Doch besteht die Bereitschaft nur darin für Mitmenschen mitfühlend da zu sein? Ist Nächstenliebe nicht einfach für Menschen da zu sein. Bei Wikipedia heißt es: „Als Nächstenliebe wird ein helfendes Handeln für andere Menschen bezeichnet. „Liebe“ beinhaltet hier jede dem Wohl des Mitmenschen zugewandte aktive, uneigennützige Gefühls-, Willens- und Tathandlung, nicht unbedingt eine emotionale Sympathie.“ Da Nächstenliebe als Begriff auf dem Judentum basiert (vgl. Lev 19,18), ist es sinnvoll, sich dem Begriff von der hebräischen Definition zu nähern. Die Grundbedeutung von „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ ist im Hebräischen das Wort רֵעַ rea‘. Es ist damit „eine Person, die einer anderen Person bzw. anderen Personen nahe steht“, gemeint (Bibelwissenschaften). Es kann dabei der Vertraute, Gefährt, Freund oder aber auch ein Verwandter sein. Im weitesten Sinne aber sind die israelitischen Angehörigen gemeint. Das geht aus der Bezeichnung „בְּנֵי עַמְּךָ bənê ‘amməkhā „Söhne deines Volkes“ in v18aβ“ (Bibelwissenschaften) hervor. Aber auch in Lev 19,34 werden Ausländer in die Liebe eingebunden ((גֵּר ger = Fremder). Dies ist alles mit den engen sozialen Beziehungen in der Antike zu erklären.

Das Ideal – Die Chesed

Das hebräische Wort Chesed (חסד) taucht zum Beispiel in Ex 34,6 auf. Die Definition lautet nach der evangelischen Seite der Universität Duisburg: „Über die rechtliche Verpflichtung hinausgehendes Wohlwollen einer höhergestellten gegenüber einer niedriger gestellten Person.“ Doch die jüdische Interpetration geht weit darüber hinaus, denn die Übersetzungen vom Griechischen („Mitleid“ oder „Fürsorge, Nächstenliebe“) sind nur schwache Versuche, das Ideal zu beschreiben. „Sie ist die absolute Liebe, die keine Bedingungen stellt, keine Gegenleistung erwartet“ (Jüdische Allgemeine). Diesem Ideal sollte man nacheifern. Es besteht aber nicht nur in freundlichen Taten, sondern auch in freundlichen Gedanken. Es bleibt aber eine Sache zwischen dem Menschen und Gott.

Nächstenliebe im Neuen Testament

Das Judentum hat das Ideal fokussiert. Doch was bedeutet Nächstenliebe im Neuen Testament? Jesus lebt ja im jüdischen Umfeld. Das Doppelgebot bei Markus (Mk 12,28-34 parr.) ist nach der Zwei-Quellen-Theorie die älteste. Doch in allen Evangelien gibt es den Bezug auf die jüdischen Stellen Dtn 6,4f. und Lev 19,18. Dabei haben aber die synoptischen Evangelien jeweils ihre eigene Logik:

Markus will zeigen, dass es zu einer fundierten und breiten Verständigung Jesu mit den Schriftgelehrten hätte kommen können: auf der Basis der Thora. Matthäus will zeigen, dass die Hierarchisierung der Gebote strittig war und geblieben ist. Lukas will herausarbeiten, dass das Doppelgebot Fragen stellt, die Jesus beantworten kann.

Vorlesung von Thomas Söding an der Universität Ruhr-Bochum (Katholische Theologie)

Dabei geht es um eine Liebe in dreifacher Gestalt (Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe). Alle drei stehen auf der gleichen Ebene. Die jüdischen Gesetzesvorschriften haben es dabei aber auf 613 gebracht, die es in diesem Zusammenhang zu beachten galt. Daher lag die Frage nach der Priorität bei den jüdischen Gelehrten nahe und diese stellten sie auch Jesus. Paulus greift dies auf, bezieht sich aber im Galaterbrief nur auf die Nächstenliebe: „Denn das ganze Gesetz ist in dem einen Wort erfüllt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! “ (Gal 5,14 Einheitsübersetzung). Die Voraussetzung für diese Liebe ist der Glaube und somit die Gottesliebe. Ist diese nicht vorhanden, so ist eine Nächstenliebe auch nicht möglich. Diese Aussage gipfelt in einem Spruch von Augustinus, der kurz und prägnant ist. Mit diesem und einem kleinen Impuls möchte ich die Definition von Nächstenliebe abschließen, denn sie ist kurz und beinhaltet alles, was es braucht:

„Ama et fac quod vis“ – Liebe und tu, was du willst. Das ist so etwas wie eine Ausführungsbestimmung für das wichtigste Gebot. – Sie würde auf einen Bierdeckel passen.

Gedanken von Sr. Charis Doepgen, OSB

7 Kommentare zu „Nächstenliebe: Ein Versuch der Definition“

    1. Es scheint einfach, ist es aber bei genauerer Betrachtung nicht, da es viele Nuancen der Bedeutung gibt. Noch ein schönes Wochenende. Liebe Grüße Monika

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  1. Wie lebt man Beziehungen zwischen Lebewesen (ob geistig oder menschig), das Gemeinschaftliche, um das Gute und Liebenswerte zu fördern – in anderen und für andere?! Bekanntlich ist das Gute, ein Moral-Begriff. Und vielleicht ist die Moral von der Geschichte des Menschen, daher in Gott zu suchen, die Quelle allen Gutes und aller Liebe. Möge daher unser Ego zwischen Gott und Mitmensch nicht das Problem sein :-), denn uns Ego lässt sich leichter ändern als das Ego unsere Mitmenschen.

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